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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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nicht gespielt. Wenn du dich nicht ordentlich benehmen kannst, gehst du ohne Mittagessen auf dein Zimmer. Und sitz endlich gerade.« Weshalb hatte man die Kinder früher immer an fremden Tischen erzogen und wie Rekruten gegängelt? Warum war es so wichtig gewesen, dass sie stocksteif dasaßen und schweigend kauten?
    »Du isst ja gar nichts«, stellte Sophie fest.
    »Du auch nicht, Fräulein Naseweis«, sagte ihre Mutter. »Du spielst nur herum. Merk dir, mit Essen wird nicht gespielt. Und sitz gerade. Mit einem Buckel kriegst du nie einen Mann.«
    »Ich will keinen Mann. Ich heirate Washi. Er fährt mit mir nach Amerika, und ich darf den ganzen Tag Donuts essen.«
    »Du fängst ja früh an«, sagte Anna.
    »Mit was?«
    Für Betsy wurde es eine lange Nacht. Wenn sie schlief, wurde sie barfuß in überfüllte Züge gestoßen oder sie klammerte sich an ein Floß in einem blutroten Meer und flehte Präsident Roosevelt an, Claudettes Hund nicht aus dem Rettungsboot zu werfen. Lag sie wach, grübelte sie, wie Claudettes Hund geheißen hatte und was aus ihm geworden war. Jede Stunde wurde es ihr schwerer, die Hoffnung niederzuringen, das Paket könnte von Clara und Erwin sein oder aus Südafrika kommen. Es war noch keine vier Wochen her, dass ein nach Durban an Alice adressierter Brief mit dem Vermerk »Unknown« nach Frankfurt zurückgekehrt war – so wie die Briefe, die Betsy davor nach Pretoria und Johannesburg geschickt hatte.
    Im Nachhinein entpuppten sich die kurzen Öffnungszeiten des Zollamts jedoch als Glücksfall. Fritz hatte bereits am Gründonnerstag dienstfrei und sagte, er würde Betsy in die Stadt begleiten. »Falls das Paket so groß ist, dass du’s nicht allein nach Hause tragen kannst.«
    »Glaubst du noch an den Weihnachtsmann, oder findest du mich zu klapperig, um mich allein aus dem Haus zu lassen?«
    »Um Himmels willen, so was denke ich noch nicht mal im Traum. Unter uns: Ich will dir seit drei Tagen was Wichtiges erzählen, was derzeit nur für deine Ohren bestimmt ist, aber in diesem Bienenstock erwisch ich dich nie allein. Trotzdem warte ich jetzt mit der Sache, bis wir das Paket in Händen haben. Erst gepfiffen, dann gesungen, habe ich von meiner Mutter gelernt.«
    »Und ich habe von meinem Vater gelernt, wer zögert, hat das Spiel verloren, ehe es beginnt.«
    Das Zollamt war trotz Frühlingswärme und Sonnenschein kalt und dunkel. Die ungestrichenen Wände schienen zu dampfen. Durch die vielen Menschen, die auf ihre Pakete warteten, wirkte der große Raum kleiner, als er war. Es roch nach feuchten Mänteln und nach Schuhen, die nie gelüftet wurden. Auf einem der beiden an der Querwand angebrachten Schilder stand »Rauchen streng verboten!«, auf dem zweiten wurden die Wartenden aufgefordert: »Erst Nummern von Schalter II holen, dann warten bis zum Aufruf. Kriegsversehrte der Stufe I mit Ausweis und Frauen ab dem 8. Schwangerschaftsmonat haben sich am Sonderschalter zu melden.«
    »Hauptsache, wir vermeiden das Wort bitte«, murmelte Fritz.
    Vis-à-vis den Abfertigungsschaltern waren vier abgenutzte Stühle aufgestellt; sie waren alle besetzt. Auf dem einen saß eine junge Frau mit grellblond gefärbtem Haar, in dem ein auffälliger silberfarbiger Kamm steckte. Der Kaugummi, den sie, wie die jungen amerikanischen Soldaten in den Jeeps, in Abständen aus dem Mund zog, ihre feinen Nylonstrümpfe, der feuerrote Lippenstift, ihre langen violett lackierten Nägel und ein zu enger grellgrüner Pullover, der über ihrer großen Brust spannte, wiesen sie als eine jener entschlossenen Fräuleins aus, die von deutschen Frauen über dreißig, denen nicht die gleichen Möglichkeiten zum wirtschaftlichen Aufstieg gegeben waren, und moralstarken alten Männern als »Amiliebchen« bezeichnet wurden. Fritz sagte sehr bestimmt und, wie ihm bereits beim Sprechen auffiel, ohne eine Spur seiner üblichen Verbindlichkeit, die junge Frau solle sofort ihren Sitzplatz seiner Mutter überlassen. Er presste das befehlende »sofort« scharf aus seiner Kehle und deutete auf ein Schild mit der Aufschrift »Nehmt Rücksicht auf Alte, Kranke, Kriegsversehrte und Kinder«. Als er die Engstirnigkeit und Intoleranz, die er an anderen verachtete, an sich selbst diagnostizierte, war er bestürzt. Auch die Frau erschrak; sie stellte ihre Kaubewegungen ein und schaute sich um wie jemand, der nach dem Beistand von Gleichgesinnten sucht. Dann stand sie verdrossen auf.
    »Danke für die Mutter«, flüsterte Betsy und setzte
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