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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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aufstand. Auch er konnte sich wieder bewegen, konnte sehen, hören, fühlen, denken, danken, jubeln. Erlöst ging er auf die zu, die ihm geblieben war. Er nahm Betsy in den Arm, spürte ihren Atem auf seinem Gesicht, und einen Herzschlag lang, den er nie mehr vergaß, glaubte er, sie wäre tatsächlich seine Mutter.
    Sie standen nebeneinander und starrten das Paket mit den flammenden Marken und den vielen Stempeln an, sie versuchten zu sprechen und konnten nur flüstern, denn sie trauten sich nicht zu glauben, was sie sahen. Der Mann hinter dem Paketschalter, der von Wundern sprach, als wäre es am Menschen, sie zu vollbringen, räusperte sich. Fritz hielt Betsy sein Taschentuch hin, schluckte das Salz seiner Tränen hinunter und sagte im Ton derer, die zu trösten gelernt haben: »Es ist alles gut. Alice hat uns gefunden.«
    »Mein Gott, die Schrift«, staunte Betsy. »Sie hat sich kein bisschen verändert. Sie kippt immer noch nach links. Johann Isidor hat sich immer geärgert. Meine jüngste Tochter schielt beim Schreiben, hat er geschimpft, und dann hat ihn Erwin beruhigt und gesagt‚ das macht doch nichts, Vater. Bei einem Mädchen, das so aussieht wie Alice, kommt es nicht auf die Schrift an. Es ist noch nicht mal wichtig, dass sie schreiben kann.«
    »Bestätigen Sie den Erhalt der Sendung bitte hier, Herr Rat«, sagte der Beamte. »Sie brauchen das Paket nicht hier zu öffnen. Wir machen nur Stichproben. Stichproben bei den richtigen Leuten«, zwinkerte er in Richtung Betsy. »Und für Leute, bei denen Stichproben nötig sind, habe ich das richtige Händchen. Kohlmanns Karl war schon beim Barras für seinen siebten Sinn berühmt.«
    »Mein Gott, wie konnte ich nur so blöd sein«, flüsterte Betsy vor der Tür vom Zollamt, »so spatzenhirnblöd, würde Fanny sagen. Wie kann eine Mutter vergessen, wie die eigene Tochter heißt? Nein, da gibt es keine Entschuldigung, mein Lieber, noch nicht mal eine Erklärung. Andere Leute waren auch in Theresienstadt und haben nicht vergessen, wie ihre Kinder heißen. Ich hab meine sämtlichen Briefe an Alice Zucker in Pretoria adressiert. Das war die letzte Adresse, die ich von ihr hatte. Ich habe einfach nicht mehr gewusst, dass ihr Mann Zuckerman heißt. Leon Zuckerman.«
    »Hast du ihn denn je kennengelernt?«
    »Ich hab ihn ein einziges Mal gesehen. In der Synagoge. Von der Frauenempore aus. Ich glaub, ich hab damals noch nicht gewusst, dass er mein Schwiegersohn wird. Er ist ja allein ausgewandert, Alice ist ihm nachgereist, und sie haben erst drüben geheiratet. Wir haben damals noch nicht einmal begriffen, dass das für sie die Rettung war. Unverheiratete Frauen haben damals schon kein Visum mehr bekommen. Leons Mutter habe ich später oft besucht. Alice bat mich in jedem Brief darum. Ich war noch eine Woche vor ihrer Deportation bei ihr. Der Mann war schon gestorben. Sie hatte vier Kinder, aber sie hat nur von Leon gesprochen und war ganz sicher, dass sie ihn wiedersehen würde. Mir hat es das Herz gebrochen, sie so reden zu hören.«
    Sie machten sich auf den Weg nach Hause und sahen, dass die Gänseblümchen in den Grünanlagen, die am Tag zuvor noch märzklein gewesen waren, nun in den Himmel wuchsen und die Wolken anlächelten. Die Amseln, denen die Menschen nachsagen, sie würden das schwarze Witwenkleid tragen und von frühem Leid singen, sahen alle satt und zufrieden aus und so, als glaubten sie an das große Glück. Es drängte Betsy, und es drängte Fritz, einander festzuhalten, wie es Liebende tun, die im Moment der Erfüllung die Ewigkeit entdecken. Da für das Paket aus Südafrika jedoch zwei Männerhände und viel Kraft nötig waren, fanden nur ihre Augen zueinander.
    »Alice«, sagte Fritz, »ist in meinen Erinnerungen nie erwachsen geworden, obwohl sie schon sechzehn war, als ich das erste Mal in die Rothschildallee kam. Sie war wunderschön. Ich sehe sie noch heute. Sie hatte eine Gießkanne in der Hand und ein grünes Kleid an, das genau zu ihren Augen passte. Ich hatte furchtbar sündige Gedanken und habe mich schrecklich geschämt.«
    »Sie war«, erinnerte sich Betsy, »das typische Nesthäkchen, von allen verwöhnt und sich ihrer Schönheit schon als Dreijährige bewusst, ein richtiges kleines Biest, aber sie hat immer gern gegeben. Sie konnte es nicht haben, wenn eine ihrer Schwestern oder Claudette traurig waren. Woher sie wohl Annas Adresse hat, und wie hat sie erfahren, dass ich lebe?«
    »Vom lieben Gott.«
    »Ich glaub, du meinst das
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