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Heimkehr

Heimkehr

Titel: Heimkehr
Autoren: Richard Bach
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erziehe? Jede Woche sammeln sich mehr Menschen in mir an, die ich einmal gewesen bin, und gesellen sich zu denen, die schon da sind. Morgen werde ich einer von ihnen sein, nämlich ich. Warum soll ich diese Menschenmenge mit mir herumschleppen? Was es da alles zu beachten gibt: ›Vorsicht, wir müssen auf die Gefühle der anderen Rücksicht nehmen! Leute, einigt euch, was wir
    als nächstes tun.‹« Sogar in meinen Ohren klang das wie eine Verteidigungsrede.
    »Es geht nicht um diese Menschenmenge«, erwiderte sie und schüttelte den Kopf. »Aber wenn du alles wegschiebst, selbst die Erinnerung an die Kindheit, hast du denn dann noch eine Vergangenheit?«
    »Ich habe Erinnerungen«, sagte ich hastig und wußte, daß sie den ungesagten Rest hören konnte: Nur wenige Male habe ich mich an seltene grüne Oasen in der Wüste meiner Kindheit erinnert. Sie sollten ein Wunderland sein, aber sie sind leer, wenn ich zurückblicke — als ob ich hineingefallen wäre, ein Besucher aus der Gegenwart mit einem gefälschten Ausweis.
    Leslies Vergangenheit hat ihre eigenen schwarzen Löcher: Pflegeheime hinterließen leere Stellen in ihrem Kopf, die inneren Verletzungen des kleinen Mädchens, die auf Röntgenbildern nicht sichtbar würden, hat sie verdrängt. Dennoch ist ihr tägliches Leben voller Erinnerungen an das Kind, das sie einst gewesen, alte Erfahrung hilft ihr, heute zu entscheiden und morgen zu wählen.
    »Einigen wir uns auf zwei Erinnerungen?«
    »Einverstanden«, erwiderte sie lächelnd.
    »Ich weiß keine mehr.«
    Damit wollte sie sich nicht zufrieden geben. »Denk ein wenig nach. Du kannst dich schon erinnern, wenn du nur willst.«
    »Ich habe Wolken beobachtet. Ich lag auf dem Rücken, versteckt in einer stillen Ecke hinter dem Haus, wilder Weizen um mich herum. In den Himmel zu blicken war das gleiche wie in einen unendlich tiefen See zu schauen, die Wolken waren schwimmende Inseln.«
    »Du hast Wolken beobachtet«, sagte sie zu mir. »Und was hast du danach getan?«
    Aber das ist wichtig, dachte ich. Verscheuch nicht die Wolken, der Himmel war mein Fluchtpunkt, er war meine Liebe, er war und blieb meine Zukunft. Sag nicht ›danach‹, der Himmel bedeutet mir alles.
    »Der Wasserturm«, sagte ich nach einer Pause.
    »Was ist mit dem Wasserturm?« wollte sie wissen.
    »Wir lebten in Arizona, als ich klein war. Auf einer Ranch, die einen Wasserturm hatte.«
    »Was hat es mit dem Wasserturm auf sich? Warum erinnerst du dich ausgerechnet an ihn?«
    »Ich weiß es nicht«, gab ich zurück und kramte in meinen Erinnerungen. »Ich nehme an, weil er das größte Bauwerk in der ganzen Umgebung war.«
    »Einverstanden. Und deine nächste Erinnerung.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Das waren schon zwei.«
    Sie wartete noch ein bißchen, als ob sie wenigstens drei Erinnerungen von mir hören wollte, nachdem sie vorher hundert verlangt und nur zwei bekommen hatte.
    Mir fiel noch etwas ein. »Ich habe einmal einen ganzen Nachmittag auf einem Baum verbracht, bis es schließlich dunkel wurde.« Das reicht, dachte ich mir, ich habe ihr jetzt mehr erzählt, als ich vorhin versprochen habe.
    »Warum warst du auf dem Baum?« fragte sie.
    »Ich weiß es nicht mehr. Du wolltest von mir Erinnerungen hören und keine Begründungen.«
    Wieder schwiegen wir. Ein paar Erinnerungen holperten über eine ruckelnde und wackelnde Spule auf dem altersschwachen Projektor in meinem Inneren. Bilder meiner Kindheit? Neben dem Baum und dem Wasserturm sah ich weitere Meilensteine ohne Gewicht: eine Radtour mit einem Freund aus Kindertagen, die winzige Skulptur eines lachenden Buddhas. Wenn ich ihr das jetzt erzählen und sie mich fragen würde, was es bedeutete, könnte ich es ihr bestimmt nicht erklären.
    »Meine Großeltern sind gestorben, bevor ich geboren wurde beziehungsweise als ich noch ganz klein war. Damals ist auch mein Bruder gestorben. Aber das weißt du alles schon.« Statistik, dachte ich, keine wirkliche Erinnerung.
    Leslie war nach dem Tod ihres Bruders völlig verzweifelt gewesen, und sie hatte sich immer geweigert zu glauben, daß der Tod meines Bruders mich nicht bedrückt hatte. Aber die Wahrheit ist, daß ich seinem Tod kaum Beachtung geschenkt habe. Es war einfach vorbei. Ich hatte erwartet, daß sie die Sache wieder hervorkramen würde: Wie kannst du nur vom Tod deines Bruders so reden, als ob er ein Fall für die Statistik sei und keine Erinnerung?
    Aber sie sprach von etwas anderem. »Erinnerst du dich daran, daß du Dickie
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