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Hausbock

Hausbock

Titel: Hausbock
Autoren: Richard Auer
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sich heute früh nicht wie
jeden Tag am Telefon meldete, hat meine Frau mich bedrängt, dass ich
herüberfahre, um nach dem Rechten zu sehen. Ich hatte ehrlich gesagt keine Lust
darauf. Er ruft normalerweise mindestens zehnmal am Tag bei uns an, das kann
einem ganz schön auf die Nerven gehen.«
    »Das hat sich jetzt ja erledigt«, sagte Morgenstern, der sich von
Hinterbliebenen in der Regel etwas mehr Pietät erwartete. »Und, weiter?«
    »Daheim in seinem Haus war er nicht, deswegen bin ich hierher in
sein Revier gefahren. Ich wusste, dass er auf die Jagd wollte, das hat er mir
gestern Abend am Telefon erzählt. Aber beim Herfahren hatte ich schon so ein
Gefühl, dass etwas nicht stimmt. In seinem Alter, mit achtzig, sollte ein Mann
nicht mehr allein auf die Jagd. Aber er war so stur, es war ihm nicht
auszureden.«
    »Wann wollte er denn aufbrechen?«, fragte Hecht.
    »So gegen einundzwanzig Uhr, nach Einbruch der Dämmerung«, sagte
Walter Schreiber. »Normalerweise hält er es dann bis Mitternacht auf diesem
Hochstand aus, bis es ihm zu kalt wird. Es sei denn, er hat vorher schon was
geschossen.« Schreiber schaute in die Runde. »Aber ich will jetzt endlich
wissen, was hier los ist«, verlangte er gereizt. »Was soll überhaupt diese
ganze Fragerei?«
    Morgenstern räusperte sich und versuchte, eine möglichst
staatstragende Miene aufzusetzen. »Ihr Vater wurde gestern Abend oder in der
Nacht von einer Kugel getroffen. In den Oberkörper. So, wie es für uns bisher
aussieht, saß er auf dem Jägerstand und ist dann heruntergestürzt. Um es
klarzustellen: Der Schuss kam nicht aus seiner eigenen Waffe.«
    Morgenstern hasste solche Situationen. Mehrmals hatte er schon
erlebt, dass die Angehörigen vor seinen Augen einen Zusammenbruch erlitten, zu
schreien begannen oder hemmungslos in Tränen ausbrachen. Walter Schreiber war
von anderem Kaliber. Er blickte Morgenstern lange schweigend an.
    »Nicht aus seiner eigenen Waffe«, murmelte er schließlich und drehte
sich dann entschlossen um. Ein zweites Mal wandte er sich dem Leichnam seines
Vaters zu, beugte sich hinab und zog nun die Plane ganz zur Seite, um sich die
tödliche Schusswunde anzusehen.
    Ohne sichtliche Reaktion drehte er sich wieder zu Morgenstern um.
»Sie leiten also hier die Ermittlungen?«, fragte er und sah ihn prüfend von
oben bis unten an. Morgenstern fühlte sich einen Moment lang unwohl in seiner
verwaschenen Jeansjacke und seinen hohen Lederstiefeln.
    »Es könnte doch auch ein Jagdunfall gewesen sein. Ein anderer Jäger,
der seinerseits gerade auf der Pirsch war, könnte meinen Vater versehentlich
angeschossen haben. Finden Sie nicht auch?«
    Morgenstern nickte. »Kann alles sein. Wir stehen erst ganz am
Anfang. Ein Schuss mitten in die Brust eines Jägers, der auf einem Hochstand
sitzt, wäre allerdings ein besonders ungewöhnlicher Unfall, da werden Sie mir
recht geben, Herr Schreiber. Und in diesem Fall hätte sich der … Verursacher« –
ein anderes Wort fiel ihm nicht ein – »bestimmt sofort gemeldet. Ein Jagdunfall
ist möglich, natürlich. Aber wir können auch nicht ausschließen …«
    »Was können Sie nicht ausschließen?«, fragte Schreiber scharf.
    »Es ist denkbar, dass Ihr Vater absichtlich getroffen wurde. Von
jemandem, der ein Problem mit ihm hatte.«
    »Absichtlich getroffen?«, fragte Schreiber. »Soll das heißen … soll
das heißen, dass Sie an Mord denken?«
    »An was würden Sie denn denken, Herr Schreiber? Wir müssen
jedenfalls in alle Richtungen ermitteln. Und es ist Ihnen hoffentlich klar,
dass wir entscheidend auf Ihre Mithilfe angewiesen sind.«
    Schreiber nickte langsam. »Wird wohl nicht anders gehen«, sagte er.
»Ich tue, was ich kann.«
    »Das ist sehr gut, Herr Schreiber«, sagte Morgenstern. »Dann fangen
wir vielleicht gleich an Ort und Stelle an.«
    Hecht, Morgenstern und Schreiber gingen langsam den Waldsaum
entlang.
    »Sie haben vorhin erzählt, dass Sie Ihren Vater nicht mehr gerne
allein auf die Jagd ließen«, begann Hecht.
    »Stimmt«, antwortete Schreiber. »Genauso wie ich der Ansicht bin,
dass alte Männer ihren Führerschein abgeben oder ab einem gewissen Alter
regelmäßig eine Fahrprüfung ablegen sollten. Aber bei meinem Vater kommt noch
etwas anderes dazu: Er hat mir vor einiger Zeit erzählt, er fühle sich im Wald
… beobachtet.«
    »Hat sich Ihr Vater gefürchtet?«, fragte Morgenstern.
    »Gefürchtet? Nein. Er war eher verunsichert, glaube ich.
Möglicherweise hat er sich selbst
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