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Haus des Glücks

Haus des Glücks

Titel: Haus des Glücks
Autoren: Yvonne Winkler
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Julia hatte keine Mühe, den Haken ihrer Tochter zu finden. Sie hängte den Turnbeutel daran und machte sich auf den Rückweg zum Auto. Atemlos ließ sie sich auf den Fahrersitz fallen, startete und setzte den Blinker. Im Rückspiegel sah sie, dass eine Politesse soeben ihr Gerät zückte und mit dem ersten Falschparker in der Reihe begann. Sie hatte Glück gehabt. Wenigstens ein Lichtblick an diesem verkorksten, unerfreulichen Morgen.
    Julias Puls beruhigte sich allmählich, während sie sich langsam mit dem zähfließenden Verkehr quer durch die Innenstadt, über die Reeperbahn und auf der Elbchaussee Richtung Blankenese schob
. Hoffentlich musste sie nicht stundenlang nach einem Parkplatz suchen!
Das Kapitänsviertel auf dem Süllberg trug nicht umsonst auch den Namen »Treppenviertel«. Es war zu einer Zeit entstanden, als noch niemand an Autos gedacht hatte. In den schmalen Gassen hatten Pkws kaum Platz, und viele der Häuser waren nur über unzählige Treppenstufen zu erreichen. Was für Besuche und Spaziergänge im Sommer reizvoll war, war überaus ärgerlich, wenn man Wasserkisten oder Möbel schleppen musste, es windig und regnerisch war, oder wenn man es – so wie sie heute – eilig hatte. Doch das Glück lächelte ihr erneut. In einer der wenigen Straßen, die hier diesen Namen verdienten, fuhr eine Frau aus einer Parklücke. Julia parkte den Wagen, lief über zwei steile Treppen den Hügel hinunter und stand kurz nach zehn vor dem Haus ihrer Großmutter. Sie liebte dieses kleine Haus mit seiner weißgetünchten Fassade, den Sprossenfenstern, den Stuckverzierungen und der mit Schnitzereien verzierten, hellblau und weiß gestrichenen Holztür.
    Sie atmete einmal durch und drückte den Klingelknopf neben dem Namensschild Carstensen. Kurz darauf öffnete sich die Tür.
    Oma Lotte begrüßte sie mit einem Kuss auf die Wange und ihrem warmen Lächeln. Sie trug ein brombeerfarbenes Kleid, das ihre silbergrauen, sorgfältig frisierten Haare zum Leuchten brachte. Ihr zartes, von unzähligen Falten durchzogenes Gesicht mit der schmalen Nase, den hohen Wangenknochen und den fein geschwungenen Augenbrauen war ungeschminkt. Und doch war Oma Lotte zweifelsohne die schönste Großmutter auf der Welt. »Komm rein, min Deern. Der Tee ist bereits fertig.«
    Julia hängte ihren Mantel an die Garderobe und folgte Oma durch den Flur und das helle Wohnzimmer auf die Veranda. Es war hier deutlich wärmer als noch vor zwei Wochen. Trotzdem lagen die Wolldecken auf den Lehnen der Rattansessel. Der Teetisch war gedeckt. Aus der chinesischen Kanne stieg eine feine Dampfsäule auf. Es duftete nach Kirschblüten und Mandelhörnchen.
    Julia setzte sich, und ihre Großmutter schenkte den goldfarbenen Tee in die hauchdünnen Porzellantassen.
    »Ich habe heute
Japanische Kirsche
aufgebrüht. Bei dem Schietwetter da draußen brauche ich wenigstens einen Hauch von Frühling.«
    »Es zieht nicht mehr durch das Fenster«, stellte Julia fest und nippte an ihrem Tee.
    »Ja, ist das nicht schön?« Oma Lotte strahlte über das ganze Gesicht. Julia bewunderte sie für die Gabe, sich auch über Kleinigkeiten aus tiefstem Herzen freuen zu können. »Jetzt kann ich hier sitzen, ohne dass mir die Ohren im Luftzug flattern!« Sie lachten beide. »Erdogan hat die Dichtungen erneuert und eine kaputte Scheibe ausgewechselt. Gute, saubere Arbeit. Es ist ihm sogar gelungen, das gleiche Glas aufzutreiben, so dass man das neue Fenster von den alten nicht unterscheiden kann.«
    Julia lächelte. Großmutter gehörte zu den wenigen, glücklichen Menschen, denen gegenüber sich alle stets zuvorkommend und respektvoll benahmen. Allerdings behandelte sie selbst jeden, der ihr begegnete, egal ob Verkäufer, Busfahrer, Müllmann oder Bankdirektor,
anständig.
Sie war eine aufrichtige, warmherzige Frau, und das spürte man sofort. Was hatte Oma Lotte letztes Mal gesagt? Sie beide seien aus dem gleichen Holz geschnitzt. Wenn das doch nur wahr wäre.
    »Geht es dir besser?«
    Julia nickte und versuchte, Großmutters Blick auszuweichen.
    »Und hast du mit Marco über das Studium gesprochen?«
    Die Stunde der Wahrheit war gekommen.
    »Er ist dagegen.« Sie stellte ihre Tasse ab und sah aus dem Fenster. Heute war kein Schiff auf der Elbe unterwegs. Vielleicht hatten nicht einmal die großen Containerschiffe Lust, sich bei diesem Wetter hinauszuwagen.
    »Hat er einen bestimmten Grund?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Viele. Das Studium würde unser Familienleben
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