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Haus des Glücks

Haus des Glücks

Titel: Haus des Glücks
Autoren: Yvonne Winkler
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zu rennen und die Räume in keimfreie Operationssäle zu verwandeln.
    Das war typisch. Selbst Banalitäten erzeugten Bilder, Assoziationen und Metaphern aus dem medizinischen Bereich. Das war schon immer so gewesen. Wenn sie auf der Straße einen Menschen mit gelblicher Hautfarbe traf, erinnerte es sie an eine kaputte Leber; hörte sie jemanden husten, fielen ihr Bakterien und Asthma ein. Humanmedizin zu studieren war ihr Traum. Dieser Gedanke ploppte immer wieder hoch wie ein Sektkorken. Immer wieder.
    Sie steuerte den Wagen auf die Auffahrt und stieg aus. Im Haus erwartete sie Stille. Miriams vergessener Turnbeutel ließ die Kordeln traurig hängen, als wollte er sie anklagen.
Du willst Verantwortung für das Leben Fremder übernehmen? Dabei bist du nicht einmal in der Lage, dafür zu sorgen, dass deine Kinder ihre Unterrichtsmaterialien in die Schule mitnehmen!
    Julia ging in das Esszimmer und räumte das schmutzige Geschirr vom Tisch. Im Wohnzimmer stolperte sie fast über einen Spielzeugbagger, zwei weitere Baufahrzeuge parkten unter dem Wohnzimmertisch neben einigen Gesellschaftsspielen. Ein Stapel Tierzeitschriften lag auf dem Kissen vor dem Kaminofen, wo Miriam sie gestern nach dem Abendessen durchgeblättert hatte. Das tat sie gerne vor dem Schlafengehen, vergaß aber meist, sie danach mit auf ihr Zimmer zu nehmen. Normalerweise übernahm Julia das für sie, doch heute war sie dazu nicht in der Lage. Wenigstens nicht gleich. Vielleicht später.
    Sie ließ sich erschöpft in den Sessel fallen und starrte regungslos aus dem Fenster. Der Himmel war grau. Der Wind trieb ein paar welke Blätter vor sich her. Es nieselte immer noch. Ein Tag ebenso unerfreulich wie eine kaltschweißige Hand im Nacken. Allerheiligen, Gräbersegnung, Totensonntag, Volkstrauertag, dazu das nasskalte Wetter – dieser Monat machte sie fertig. Marco machte sie fertig. Sie fühlte sich wie eine Gefangene, der man die Fußkette abgenommen hatte, um sie stattdessen in einen Käfig zu sperren. Einen Käfig, der noch enger und muffiger war, als ihr bisheriges Gefängnis. Wieso merkte er das nicht?
    Nach einer Weile zwang sie sich aufzustehen. Wenn sie noch lange sitzen blieb, würde sie depressiv werden und in der Psychiatrie enden. Sie sammelte Miriams Zeitschriften ein, machte die Betten in den Kinderzimmern und räumte die Küche auf. Sie wollte gerade die Geschirrspülmaschine anschalten, als ihr einfiel, dass Dienstag war. Omatag.
    So sehr Julia die Besuche auch genoss, heute hätte sie gerne darauf verzichtet. Großmutter hatte ein gutes Gespür. Vor ihr würde sie ihren Kummer wegen des Streits mit Marco nicht verbergen können. Wahrscheinlich hatte Miriam diese feine Antenne von ihr geerbt.
    Für einen Augenblick kämpfte sie mit sich. Sollte sie nicht einfach bei Oma Lotte anrufen und ihr sagen, dass sie Kopfschmerzen hatte und heute leider nicht kommen konnte? Aber das war schon letzte Woche ihre Ausrede gewesen. Außerdem dachte sie an ihre Schwester. In der Zeit von September bis März, wenn ihre Eltern dem Hamburger Schmuddelwetter entflohen und sich in ihrer Wohnung auf Mallorca aufhielten, wechselten sie beide sich mit den Besuchen bei Oma Lotte ab. Cornelia würde ein großes Gezeter machen, sie mangelnder Pflichterfüllung und Verantwortung beschuldigen und ihr das Gefühl geben, untüchtig zu sein. Darauf konnte sie verzichten. Dann schon lieber Großmutters wachsamen Augen gegenübertreten. Die war wenigstens weder boshaft noch rechthaberisch. Möglicherweise hatte sie auch einen Rat.
    Julia warf einen Blick auf die Uhr. Halb zehn. Sie musste sich beeilen, wenn sie pünktlich bei Oma Lotte sein wollte. Hastig zog sie sich die Jacke an, schnappte sich die Handtasche, die Auto- und die Wohnungsschlüssel und verließ das Haus. Nur um gleich darauf umzudrehen, weil sie Miriams Turnbeutel vergessen hatte. Sie warf das vermaledeite Ding auf den Rücksitz und fuhr so schnell zur Schule, wie es die Verkehrsregeln erlaubten. Sie hielt im Parkverbot. Während sie im Nieselregen über den verlassenen Schulhof lief, hoffte sie, dass nicht ausgerechnet in diesem Moment ein Hilfssheriff auf die Idee kam, Strafzettel zu verteilen. Sie eilte in das Schulgebäude und hastete die Treppe in den ersten Stock hoch. Es roch nach Fingerfarbe, Klebstoff und Bohnerwachs. Derselbe Geruch hatte sie durch ihre eigene Schulzeit begleitet. Vor Miriams Klassenraum hingen die Jacken, Mützen und Schals der Kinder in fröhlichem Chaos an der Garderobe.
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