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Hannibal

Hannibal

Titel: Hannibal
Autoren: Thomas Harris
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ihren Augen zu lesen. »Ich möchte, daß Sie begreifen, welche Reichtümer Sie in sich tragen, Clarice, und was ihre berechtigten Ansprüche sind. Clarice, haben Sie in jüngster Zeit Ihrem Spiegelbild Beachtung geschenkt? Kommen Sie mit in die Halle, stellen Sie sich vor den
Wandspiegel.« Dr. Lecter nahm einen Kandelaber vom Kaminsims. Der hohe Spiegel war einer der guten Antiquitäten aus dem 18. Jahrhundert, aber an manchen Stellen schon leicht blind und zerkratzt. Er stammte aus dem Chateau Vaux-le-Vicomte, und Gott weiß, was er schon zu sehen bekommen hatte. »Sehen Sie, Clarice. Dieser entzückende Anblick sind Sie. An diesem Abend werden Sie sich selbst für einige Zeit aus der Ferne sehen. Sie werden sehen, was gerecht ist, Sie werden sagen, was wahr ist. Es hat Ihnen nie an Courage gefehlt, um das zu sagen, was Sie denken, aber Sie sind durch Zwänge gehemmt worden. Ich sage es Ihnen noch einmal, Mitleid hat keinen Platz an dieser Tafel. Falls Bemerkungen fallen, die für den Moment wenig erfreulich sind, werden Sie erleben, daß der Kontext sie zu etwas macht, das zwischen drollig und unglaublich komisch changiert. Wenn Dinge gesagt werden, die schmerzhaft wahr sind, dann sind das nur vorübergehende Wahrheiten, die sich ändern werden.« Er nippte an seinem Drink. »Falls Sie Schmerz in sich knospen fühlen, wird er schnell als Trost Blüten treiben. Verstehen Sie mich?« »Nein, Dr. Lecter, aber ich einnere mich an das, was Sie sagten. Zur Hölle mit der Besserung der eigenen Person. Ich will ein vergnügliches Abendessen.« »Das verspreche ich Ihnen.« Er lächelte, ein Anblick, der manche in Angst versetzte. Keiner von beiden schaute mehr auf Starlings Spiegelbild in dem umwölkten Glas; sie schauten sich gegenseitig durch das Licht der brennenden Kerzen des Kandelabers an, und der Spiegel beobachtete sie beide. »Sehen Sie, Starling.« Sie sah die roten Funken tief in seinen Augen sich wie Feuerrädchen drehen und spürte die Erregung eines Kindes in sich, das sich einem fernen Rummelplatz näherte. Dr. Lecter entnahm seiner
Jackentasche eine Spritze mit einer haarfeinen Nadel und ließ sie, ohne hinzuschauen, einfach dem Gefühl folgend, in ihren Arm gleiten. Als er sie herauszog, blutete die kleine Wunde nicht einmal. »Was haben Sie eigentlich gespielt, als ich vorhin hereinkam?« fragte sie. »>If Love Now Reigned<.« »Ist es sehr alt?« »Henry VIII. hat es um das Jahr 1510 komponiert.« »Würden Sie es für mich spielen?« sagte sie. »Würden Sie es jetzt für mich beenden?«

KAPITEL 100
    Der Luftzug bei ihrem Eintritt in das Eßzimmer ließ das Licht der Kerzen und der Rechauds flackern. Starling hatte das Eßzimmer nur im Vorübergehen gesehen, und es war wundervoll für sie, den Raum so verändert zu sehen. Strahlend, einladend.
Hochgeschwungenes Kristall nahm das Kerzenlicht über dem cremefarbenen Tischleinen an ihren Plätzen auf, und die weite Tischfläche war durch einen Vorhang aus Blumen auf eine intimere Größe verringert und der Rest des Tisches abgeteilt. Dr. Lecter hatte das Silberbesteck in letzter Minute aus dem Wärmer geholt, und als Starling ihr Gedeck begutachtete, fühlte sie im Griff des Messers eine beinahe fiebrige Hitze. Dr. Lecter schenkte den Wein ein und reichte ihr eine einzige Belon-Auster und ein kleines Stückchen Wurst als winziges amusegueule zum Auftakt, während er über einem halben Glas Wein saß und sie im Zusammenspiel mit seiner Tafel bewunderte. Die Höhe der Kerzenleuchter war genau richtig gewählt. Das Kerzenlicht erhellte die Tiefen ihres Dekolletes, und er mußte sich keine Sorgen um ihre Ärmel machen. »Was gibt es zu essen?« Er legte seinen Finger auf die Lippen. »Das soll man nie fragen, es verdirbt einem die Überraschung.« Sie unterhielten sich über das Zuschneiden von Krähenfedern und ihre Wirkung auf den Klang eines Cembalos, und einen Moment lang erinnerte sie sich an eine Krähe, die vor langer Zeit den Servicewagen ihrer Mutter auf dem Balkon eines Motels gefleddert hatte. In der Rückschau kam ihr die Erinnerung für den gegenwärtigen Augenblick unwichtig vor, also schob sie sie bewußt beiseite. »Hungrig?« »Ja!« »Dann sollten wir mit dem ersten Gang beginnen.« Dr. Lecter stellte ein Tablett von der Anrichte neben sein Gedeck auf den Tisch und rollte einen Servierwagen an die Tischkante. Darauf standen seine Pfannen, seine Kocher und seine Gewürze in kleinen
Kristallschälchen. Er nahm einen seiner Kocher in Betrieb
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