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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe
Autoren: Ronaldo Wrobel
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nicht leicht. Das alles erinnerte in keiner Weise an die trüben Tage in Polen, die zurückgezogen lebenden Menschen und den Schnee an den Fersen. Nostalgische Landsleute versuchten, in den Clubs und Bars an der Praça Onze Europa aufleben zu lassen, indem sie ihre Musik hörten und Borschtsch aßen. Triste Schützengräben, in denen sie sich vor dem Getöse verschanzten. Andere waren fasziniert von den Tropen und wollten die Alte Welt vergessen. Die Gläubigen betrachteten Rio mit einigen Vorbehalten, wohl wissend, dass die größte Gefahr in den einsamen Gassen steckte, in der allgemeinen Zügellosigkeit, die jeden Februar den Karneval befeuerte. Schon die iberischen Eroberer hatten erkannt: Es gibt keine Sünde unterhalb des Äquators. Wahrscheinlich war es der Herdentrieb der Brasilianer, der das Auserwählte Volk auseinandertreiben und sein jahrtausendealtes Vermächtnis auslöschen würde. Weder Kriege noch Massaker hatten geschafft, was ein halbes Dutzend Mulattinnen mit Freude vollbrachten: 18 Scheidungen allein im letzten Herbst! Und so lehrte der Heiratsvermittler Adam S.: »Nicht die Diskriminierung ist der Feind unseres Glaubens.Im Gegenteil, sie ist immer unsere Verbündete gewesen.«
    In Lapa ging Max zu einer Bahianerin, die die beste Cocada von ganz Rio machte. Gleich in der Nähe konnte man im Clube dos Democráticos sehr gut Fleisch essen. Wer Stockfisch bevorzugte, musste in eine der Kneipen in der Rua dos Inválidos und dort einen hausgemachten Schnaps trinken. Kurz, Max hatte sich zum Kenner von Bars, Restaurants und Ständen entwickelt, nicht, weil er selbst dort verkehrte, sondern dank Carlos, einem Koch aus Nilópolis, der sein eigenes Brot backte und den Verwandten in Argentinien Rezepte schickte.
    Es war übrigens eine gewisse Amália W. gewesen, die Charlie Chaplin kritisiert hatte und auch sonst alle neuen Hollywoodproduktionen verfolgte, die Stars katalogisierte und schauspielerische Leistung, Ausstattung und Musik verglich. Amália W.s Kommentare gingen bis in technische Details wie Beleuchtung und Schnitt und brachten den Schuhmacher auf die Idee, zum ersten Mal ein Kino zu betreten.
    Irgendwann machte Max sich Gedanken, wie er mit seinem unrechtmäßig erworbenen Wissen umgehen sollte. Er wusste um die Geheimnisse von Dona Berta, seiner ehemaligen Kundin, und auch um den schlechten Gesundheitszustand des Mohels , der die Kinder der Praça Onze beschnitt. Erschrocken hatte er zur Kenntnis genommen, dass die forsche Rosa F. ihren Schwiegersohn verabscheute, einen abergläubischenTischler, der ihr eines Tages den Sarg zimmern würde. Isaac P. hingegen prahlte mit einem Reichtum, den er in Wirklichkeit gar nicht besaß. Und die arme Helena, die an allem sparte, nur nicht an Problemen? War rundum glücklich. Brief um Brief deckte Max Geheimnisse auf, den Segen der Verfluchten wie den Fluch der Gesegneten. Ein und dieselbe Tatsache stellte sich auf unterschiedlichste Weise dar, mit Hilfe nicht immer haltbarer Behauptungen. Nicht jeder Grund war auch begründet. Die Rose, die bei Rachel duftete, war Samuel ein Dorn. Und die Liebe, so oft besungen und beschrieben, bedeutete selten mehr als zwei einsame Seelen, die halbwegs zueinanderpassten, vereint durch den heiligen Bund der Unterdrückung.
    Das sah der Heiratsvermittler Adam S., ein häufiger Gast in Max’ Werkstatt, natürlich anders. Er führte ein Album mit geeigneten Kandidatinnen.
    »Die hier hat schon das Brautkleid, fehlt nur noch der Bräutigam. Die hier ist zum dritten Mal verwitwet und steinreich.« Dann fuhr er Max an: »Willst du vielleicht für immer Junggeselle bleiben? Willst du, dass das jüdische Volk ausstirbt, Kutner? Lautet nicht das erste Gebot: ›Seid fruchtbar und mehret euch‹?«
    Max jagte ihn meistens zum Teufel. Die Szene wiederholte sich gegen Abend, nachdem Adam S. den anderen Junggesellen in der Nachbarschaft zugesetzt hatte. Aber dann geschah eines Tages etwas Ungewöhnliches. Als Adam S. in die Rua Visconde de Itaúna kam, erwarteten ihn ein freundliches Lächelnund ein Becher Kaffee. Er wurde misstrauisch. Sie tauschten ein paar Nettigkeiten aus, und Max begutachtete die Mädchen. Schließlich schloss er das Album und fragte: »Heißt eine von ihnen zufällig … Hannah?«
    Adam S. kratzte sich am Kinn.
    »Nicht, dass ich wüsste … ledig oder verheiratet?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Hannahs gibt es viele. Wie sieht sie denn aus, deine Hannah?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Wie, du weißt es nicht?«
    Max
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