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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe
Autoren: Ronaldo Wrobel
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wich aus.
    Nach einer Pause erklärte der Heiratsvermittler: »Halte mich nicht für dumm, Max Kutner! Vierzig Jahre auf Erden haben mich einiges gelehrt. Wer hier nicht drinsteht, steht auch nicht zur Wahl!« Er steckte das Album ein. »Denk an das siebte Gebot: ›Zerstöre nicht das Leben deiner Mitmenschen!‹«
    Wunderschön, intelligent, gebildet, mutig, Guita hörte nicht auf, die Schwester in ihren Briefen in den höchsten Tönen zu loben. »Niemand lernt dich zufällig kennen, Hannah. Und wer dich kennenlernt, vergisst dich nie. Wie kann es sein, dass du so wunderbar bist?« Im nächsten Brief dann: »Die Welt ist besser, seitdem du geboren wurdest. Ein Schauspieler hier aus Buenos Aires sagt, es sei ratsamer, eine Frau zu heiraten, die von außen annehmbar und von innen schön ist, als umgekehrt. Aber wer dich kennt,Hannah, der muss sich nicht entscheiden. Du bist in jeder Hinsicht grandios.«
    Hannah reagierte in aller Bescheidenheit. »Danke für deine lieben Worte, geliebte Schwester, aber ich habe nicht das Gefühl, deinem Lob gerecht zu werden. Wie heißt es doch so schön? Der Wert entsteht im Auge des Betrachters.« Zwei Wochen später schrieb Guita: »Sei nicht so bescheiden, Hannah! Du schlägst jeden in deinen Bann. Dein erster Mann war völlig verrückt nach dir. Nun gut, das ist Vergangenheit. Jetzt erzähl mir von José. Wo hast du ihn kennengelernt, wie ist er, was macht er?« Hannah beschrieb ihren Verlobten als »arm, aber anständig« und erklärte, sie würden nur standesamtlich heiraten, mit ihren 34 Jahren könne sie schließlich weder Blumenkranz noch Schleifen tragen. Außerdem sei es ihr nach dem jüdischen Gesetz verboten, ein zweites Mal zu heiraten.
    Dem jüdischen Gesetz?, wunderte sich der Schuhmacher. Warum konnte Hannah nicht in der Synagoge heiraten?
    Wäre Max in Polen gewesen, hätte man ihn aufklären können. Auf dem Land war das Leben von Geboten bestimmt, und wenn es Streit gab, wurden die Rabbiner gerufen. Jede Gemeinde hatte ihre Gelehrten, die stets in pergamentene Bücher versunken waren. In Brasilien war alles anders. Die Religion schien mehr eine Marotte zu sein, eine Zierde, eine gelegentliche Besinnung. Gesetze wurden im Parlament beschlossen, weiß der Himmel wie und warum, sie wurdenin Amtsräumen oder in der Snackbar eines Hotels konspirativ erdacht und abgeändert. Wer sich nicht daran hielt, beging keine Sünde, sondern musste mit bürokratischen Unannehmlichkeiten, Strafen, Gerichtsverhandlungen und Gefängnis rechnen.
    Max wanderte an der Bucht von Flamengo entlang und dachte über den Irrsinn modernen Lebens nach, während die Brise ihm die Lippen mit Salz benetzte und Niterói am anderen Ufer der Baía de Guanabara funkelte. Hier und da sah man Fischerboote auf dem ruhigen Meer, demselben, über das er eines Tages gekommen war.
    1928. Ein Schiff nähert sich von Übersee dem Zuckerhut. Eine Kulisse, bunter als das Fenster in der Synagoge von Kattowitz. »Polizei!«, wurde an Bord gebrüllt. Mit dem Pass in der Hand stellten sich die Passagiere auf. Max wäre am liebsten ins Wasser gesprungen. Beamte blätterten in Papieren, verglichen Fotos, diskutierten in einer seltsamen Sprache. Hin und wieder nahmen sie jemanden zur Seite und stellten ihm Fragen. Max biss die Zähne zusammen, als er unerwartet in tadellosem Jiddisch angesprochen wurde.
    »Jude?«
    »Ja.«
    »Pass.«
    Nach einem Blick in den Ausweis: »Schalom, Senhor Kutner. Familie, Freunde in Brasilien?«
    Niemanden.
    »Geld, Pläne?«
    Nichts. Der Mann reichte ihm eine Karte, auf der »Relief« stand.
    Bevor sie anlegten, wurden sie auf die Ilha das Flores gebracht und dort von der Gesundheitsbehörde untersucht. Gewissenhafte Männer in weißen Kitteln ließen sie den Mund aufreißen und Arme und Beine heben. Zwei Familien wurden unter Quarantäne gestellt. Gott wollte es, dass Max keine Probleme bekam und kurze Zeit später, benommen vor Bewunderung, das Festland betrat, wo er aus der Menge am Kai der Praça Mauá schließlich das Schild mit dem Aufdruck »Relief« erblickte. Mit dem Wagen brachte man ihn in ein Haus an der Praça da Bandeira, voller Akten, Tresore und Schreibmaschinen. Es handelte sich um eine jüdische Organisation für Neuankömmlinge, die Grünen genannt. Man fragte ihn nach Beruf, Alter, Familienstand. In weniger als einer Stunde hatte man ihm ein Hotel in Estácio besorgt, Geld ausgehändigt und dazu eine kleine Fibel mit portugiesischen Wörtern, die er dort im »Relief«
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