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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe
Autoren: Ronaldo Wrobel
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rieb sich die Hände. Kurz darauf erschien ein altes Mütterchen mit krausem Haar, schmutziger Schürze und portugiesischem Akzent.
    »Ja, bitte? Ich bin Ana.«
    Wieder ein Reinfall. Der Schuhmacher streunte zur Mittagszeit durch das Zentrum auf der Suche nach Läden, deren Weihnachtsgeschäft »phantastisch« gelaufen sein könnte. Aber in keinem von ihnen traf er Guitas Schwester an. Er hatte fast die gesamte Rua da Alfândega abgegrast, ganz zu schweigen von den Geschäften am Largo de São Francisco und in der Rua do Ouvidor. War er verrückt geworden? Bisher hatte erweder zu Obsessionen geneigt noch sich übermäßig für etwas engagiert, das nichts mit seiner Werkstatt zu tun hatte. Was war nur los mit ihm? Wo sollte das enden?
    Niedergeschlagen erschien er zur Arbeit.
    »Guten Tag, Senhor Kutner.« Dona Beth rieb sich die verweinten Augen. »Sehen Sie sich das an.«
    Sie hielt ein paar Stiefel in der Hand, in der Sohle steckten Nägel und Splitter.
    »Die sind von meinem Sohn. Sie wissen ja sicher schon …«
    »Was weiß ich?«
    Die Polizei war während einer zionistischen Veranstaltung mit Schlagstöcken in die Israelitische Bibliothek eingedrungen. Ergebnis: 15 Verhaftungen, Trümmer, verbrannte Bücher und Möbel. Ein Heer von Müttern kampierte im Hof der Wache, die anderen beteten in den Synagogen. Dona Beth holte eine angesengte Mesusa aus der Tasche.
    »Die lag auf dem Boden.« Und dann, in Tränen aufgelöst: »Warum behandelt man uns so? Was haben wir ihnen getan?«
    Max musste schlucken. Er erinnerte sich gut, dass ein Mann die Bibliothek erwähnt hatte, in der sein Cousin »seltsame« Bekannte traf. Es war ein langatmiger Brief gewesen, und so albern, dass sein Verfasser ihm meschugge vorgekommen war, aber was hatte Max damit zu tun? War es denn seine Aufgabe, einzelne Ausdrücke herauszufiltern und über ihre Bedeutung zu spekulieren, war er nicht einfach nur ein Übersetzer?
    Vielleicht enthielt die Mesusa die Antwort.
    Max ließ Dona Beth stehen, lief in sein Zimmer und riss das Bild von Shlomo vom Nachtisch. »Was soll ich tun, Sejde ? Sag es mir! Mich mit denen da oben anlegen? Mich den Generälen widersetzen, Sejde ? Um Himmels willen, antworte!«
    Der Alte strich sich über den Bart.
    »Überstürze nichts, mein Junge. Handle mit Bedacht. Man muss den Schlamm aufwühlen, statt ihn festzuklopfen.«
    Als Max am nächsten Tag auf die Wache kam, erwartete ihn Hauptmann Avelar.
    »Kommen Sie mit.« Sie betraten einen fensterlosen Raum. »Entlocken Sie diesem Wurm, der offenbar kein Wort Portugiesisch spricht, ein Geständnis.«
    Auf dem Boden erblickte er ein »israelitisches Subjekt«, der Mann wurde beschuldigt, Orangen gestohlen zu haben.
    »Ja, das stimmt«, gestand er auf Jiddisch. »Und nicht eine oder zwei, sondern drei. Ich habe sie mit Schale und allem hinuntergeschlungen.«
    Nervöses Räuspern.
    »Und finden Sie das … richtig?«
    »Nein! Sie waren viel zu sauer!«
    Avelar stieß den Schuhmacher an.
    »Was hat er gesagt?«
    Max dachte an die Mesusa .
    »Dass er keine Orangen gestohlen hat.«Wochen später saß Max an seinem Tagewerk und entdeckte in einem Brief das Bild eines Mädchens.
    »Auf der Rückseite«, machte ihn Onofre aufmerksam. »Da steht etwas auf der Rückseite.«
    »Sehen Sie sich das Kind genau an«, stand da mit Schreibmaschine geschrieben. »Verräterischer Jude, Faschistenschwein! Ihretwegen sitzen seine Eltern im Gefängnis!«
    Max wich die Farbe aus dem Gesicht, ihm blieb der Atem weg, und der Schweiß brach ihm aus.
    »Ich müsste mal zur Toilette.«
    Er blickte in den gesprungenen Spiegel und sah keinen untertänigen Feigling, sondern einen Helden, der die feindlichen Reihen unterwanderte. Er hatte keine Wahl, zumal er erst vor kurzem die Worte eines Philosophen übersetzt hatte: »Damit das Böse regiert, reicht es, wenn die Guten schweigen.« Abgesehen davon bekäme die Spionageabwehr sowieso bald heraus, falls sie es nicht schon wusste, dass Max Kutner Briefe für die Polizei übersetzte. Und dann würden sie auch alles andere erfahren.
    Max musste sich die bittere Wahrheit eingestehen: Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sein größtes Geheimnis entdeckten. Er malte sich aus, wie man ihn erpresste, die Briefchen, die flüchtigen Blicke. Er hörte die Leute rufen: »Hast du schon gehört? Max Kutner ist gar nicht Max Kutner!«
    * * *
    Polen, Januar 1928
    In Kattowitz herrschte eisiger Winter. Vor den Toren des Friedhofs, auf dem Max Goldman seinen Vater
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