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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe
Autoren: Ronaldo Wrobel
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beerdigte, wurden Kartoffeln und Brennholz gehandelt. Er weinte nicht, und er würde es auch im Laufe der siebentägigen Trauerzeit nicht tun. Am achten dann verschenkte er Leons Sachen und suchte einen Reiseagenten auf. Er wollte Polen verlassen, vielleicht sogar Europa. Schluss mit dem Elend! Der Mann schlug eine dicke Mappe auf und breitete die Welt vor ihm aus. Die USA hatten nach einem Antieinwanderungsgesetz die Grenzen dichtgemacht. Australien war zu teuer und zu weit weg. Sowohl in Südamerika als auch in Palästina gab es Landwirtschaftskolonien. Max wollte es sich überlegen.
    Im Februar klopfte der Agent an seine Tür, mit einem Angebot, das er unmöglich ablehnen konnte.
    Ein reicher Unternehmer aus Pinsk – mit Vornamen Max, wie der Schuhmacher – wollte im März nach Brasilien reisen. Nur dass ein paar Tage zuvor sein Wagen in einen reißenden Fluss gestürzt und er selbst verschwunden war. Da der Reiseagent im Besitz seines Passes war, war dies die Gelegenheit für Goldman, den Platz des Verstorbenen einzunehmen.
    »Sie gehen nicht das geringste Risiko ein. Der Mann gilt ja nicht einmal als tot.«
    Max fasste sich ein Herz. »Wie viel wollen Sie?«
    Er verkaufte alles, beglich seine Schulden, nahm den Zug in Richtung Norden und ging in Danzig anBord, ohne sich auch nur einmal umzusehen. Lebe wohl, Polen!
    Während er in der Kabine den Koffer auspackte, brachte der Zimmerservice die Handtücher.
    »Die sind für Frau Kutner.«
    Er erschrak. »Frau Kutner?«
    Der Mann sah in der Liste nach.
    »Herr und Frau Kutner.«
    »Also …« Max räusperte sich. »Sie ist nicht mitgekommen.«
    Er hätte den Reiseagenten am liebsten umgebracht. Das fehlte ihm gerade noch: an der Seite einer Witwe reisen zu müssen oder, noch schlimmer, mit einer Betrügerin. Der Schreck saß ihm noch eine Weile in den Gliedern, bis sie am zweiten Tag die Ostsee hinter sich ließen und sich vor ihnen die Nordsee in nicht enden wollender Pracht auftat. Da war die Vergangenheit endlich Vergangenheit, und Polen verlor an Schärfe, so wie die Zwiebeln, die seine Großmutter zu Hause gekocht hatte.
    »Max Kutner«, sprach der Schuhmacher feierlich.
    Auf Deck im Liegestuhl genoss er das Mondlicht, den immer sanfteren Wind und hörte die Menschen in fremden Sprachen sprechen. Das Schiff war ein schwimmendes Babel mit drei Klassen, Spielkasino und dazu einer Band von Albinozwergen, die Charleston spielten.
    Unglaublich. Bisher hatten sich seine Reisen auf die Kutschbockfahrten von Kattowitz ins Dorf seiner Großeltern beschränkt. Unterwegs gab es neben denimmergleichen Bäumen und Sträuchern nichts Nennenswertes zu sehen außer zwei Bächen und einem Bauernhof, an dem die Reisenden im Falle eines Falles halten konnten. Nie war man weit genug weg vom üblichen Trott, den Löchern in den Strümpfen, dem Weißkohl und der Polizei. Und jetzt trieb er übers Meer, und eine Band von Zwergen spielte mitten in der Nacht Charleston. So viel Wasser, main Got! Dieser Himmel, diese Luft, dieses Licht! Und am Ende der Reise stand Brasilien.
    »Brasilien«, seufzte er.
    Wie würde es dort sein? Die Gerüche, die Farben, die Ausmaße. Und die Menschen, was trugen und was aßen sie, was hatten sie für Schuhe? Waren sie groß oder klein, schwarz oder weiß? Mochten sie Juden? Wie klang Portugiesisch?
    Spätestens, als sie in Lissabon anlegten, brauchten sie keine Handschuhe und keine Schals mehr. Auf den Kanarischen Inseln sah man bereits nackte Beine, und in der ersten Märznacht stießen sie auf die Überquerung des Äquators an. Einige Tage danach tauchte westlich Pernambuco in etwa vier Stunden Entfernung auf.
    Früchte, lebende, schlammige Krebse, gebrannte Kastanien, im Hafen von Recife wimmelte es von Exotischem, dargeboten von halbnackten Mulatten. Die Hitze stank, und die Feuchtigkeit klebte auf der Haut. Max lief durch ein Viertel, in dem Brüste und Hintern zu günstigen Preisen feilgeboten wurden. Wie gern hätte er die dunkelbraunen Frauen angefasst, ihrschwarzes Haar, ihre breiten Hüften, wie sie ihn mit ihrer jungfräulichen Unschuld anlächelten. Doch am Kai heulten bereits die Sirenen.
    Er hatte schon die Hängebrücke betreten, als ihn plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Schwindel und mit ihm eine dunkle Ahnung befiel. Er wurde blass und bekam weiche Knie. Aus dieser Farce würde er nicht ungestraft davonkommen. Er würde sein Leben lang dafür zahlen müssen.
    Wenn Max von da an etwas Unangenehmes widerfuhr, hatte er jedes Mal das
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