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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe
Autoren: Ronaldo Wrobel
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verändern wollen, doch als er merkte, wie groß und kompliziert sie war, beschloss, sich erst mal auf sein Land zu beschränken. Aber auch das Land war groß und kompliziert, also dachte Sussja, vielleicht könnte er es wenigstens mit seiner Stadt versuchen. Auch das schien ihm irgendwann unmöglich, woraufhin sein nächstes Ziel die Familie war, bis er schließlich auf dem Totenbett einem Freund gestand: »Inzwischen habe ich eingesehen, dass ich mich auf mich selbst hätte konzentrieren sollen.«
    »Eine traurige Geschichte«, bemerkte der Kommunist verächtlich. »Der Rabbi ist also ein Egoist geworden.«
    »Irrtum! Er wollte immer noch die Welt verbessern, nur hatte er seine Taktik geändert.«
    Fünf Uhr nachmittags, die Sonnenstrahlen, die durch das Kippfenster fielen, warfen ihr Licht nicht länger auf den Präsidenten Vargas. Max betete einen Psalm herunter, als ein Beamter eintrat. Der dunkelhäutige, korpulente Mann reichte ihm die Hand.
    »Wie geht es, Kutner?«
    Es war Hauptmann Avelar, ein sporadischer, aber stets freundlicher Kunde des Schuhmachers. Er trug ein rotes Käppi, eine khakifarbene Uniform und schwarze Stiefel. Mit kräftigen Schritten ging er um den Tisch herum und zog einen Zettel aus der Hosentasche.
    »Haben wir an der Praça Onze gefunden. Was ist das?«
    Max las einen kurzen Text auf Hebräisch.
    »Juden«, brummte der Hauptmann. »Was hecken sie jetzt wieder aus?«
    Der Schuhmacher hielt eine harmlose Liste mit Zutaten in der Hand.
    »Was für Zutaten?« Avelar zündete sich eine Zigarette an.
    Mit kehligem Akzent las Max vor: »Viere rotte Rieben, zawei Kartoffelen, eine Kilo Fleisch …«
    »Rote Rüben?«
    »… Schlagsahne. Das ist ein Rezept für Borschtsch, Herr Hauptmann. Eine rote Suppe.«
    »Rot? Kommunistisch?«
    »Wegen der Roten Rüben.«
    Avelar nahm sein Käppi ab und strich sich langsam übers Haar. Er war kurz davor, die Fassung zu verlieren und dem unverschämten kleinen Juden den Hals umzudrehen. War er, der mutigste Hauptmann bei der Polizei, ein vorbildhafter Patriot, der für unzählige Heldentaten ausgezeichnet worden war und sämtliche Hymnen und Flaggen kannte, vielleicht ein Rübenjäger?
    Um die Situation zu entschärfen, improvisierte derSchuhmacher: »Schmeckt sehr gut. Man kann sie salzig oder süß essen, warm oder kalt …«
    Ein Schlag auf den Tisch beendete das Thema.
    »Scheißsuppe! Warm, kalt, süß, salzig …«
    Der Schuhmacher riskierte bereits einen erleichterten Seufzer, da verkündete der Hauptmann: »Ich habe Sie aus einem anderen Grund kommen lassen, Max Kutner.« Einleitendes Räuspern. »Nichts Schlimmes, Sie sind ein guter Jude. Und genau deswegen brauchen wir Sie auch. Sehen Sie den Mann da?«
    Er zeigte auf Getúlio Vargas.
    * * *
    Es war kurz vor Mitternacht, als Max nach Hause kam. Er war ziellos durch die Straßen um die Praça Onze gewandert und hatte über den Auftrag des Hauptmanns nachgedacht.
    »Haben Sie schon mal von Briefzensur gehört? Wir haben Übersetzer, die die Post in sämtlichen Sprachen und Dialekten der Welt überprüfen. Unermüdlich arbeiten sie zum Wohle Brasiliens. Sie sprechen doch fließend den jüdischen Jargon, nicht wahr? Sind Sie bereit für einen Dienst am Vaterland?«
    Avelar meinte Jiddisch. Es wurde von den Juden in Osteuropa gesprochen, war aus dem Deutschen hervorgegangen und wurde mit hebräischen Schriftzeichen, von rechts nach links, geschrieben. Über tausend Jahre hinweg entstand dieser »Dialekt« an der Peripherie der Geschichte, fernab von Bildung undMacht. Im Laufe des letzten Jahrhunderts hatte das Jiddische die Bühnen und Regale der ganzen Welt erobert, zum Entsetzen derer, die darin eine Verschwörung des Bösen sahen, ein hinterlistig gesponnenes Netz der Semiten zur Erlangung der Weltherrschaft. Kein Kommunismus, kein Faschismus, keine Demokratie war gegen die »mosaische Gefahr« gefeit. Bücher wie Die Protokolle der Weisen von Zion warnten davor, dass Moskau, Washington und Berlin eines Tages dem Glauben und der Lebensweise dieser bärtigen Männer unterworfen sein würden, die Jiddisch sprachen und keinen Schinken aßen.
    Der Schuhmacher hatte keine andere Wahl gehabt, er musste den »Dienst am Vaterland« antreten – was im Übrigen ein Trost war. Welche Schuld traf ihn, wo man ihn doch dazu zwang? Hätte er abgelehnt, wäre er sofort deportiert worden, und ein anderer wäre an seine Stelle getreten. Aber es war doch schmerzhaft, als Marionette der Mächtigen in den Kessel der
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