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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe
Autoren: Ronaldo Wrobel
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Geschichte geworfen zu werden. Für die Polizei zu arbeiten bedeutete das Ende eines unbefangenen, freundschaftlichen Miteinanders ohne Ambitionen und Auseinandersetzungen. Seit er 1928 nach Brasilien gekommen war, führte Max ein Dasein wie ein Bodengewächs: unterhalb der Schusslinie, wenn auch vom Leben mit Füßen getreten. Zudem vermied er es, allzu viel Güte zu zeigen, im Wissen, dass selbst die besten Absichten direkt in die Hölle führen konnten. Wie zum Beispiel bei der Geschichte mit dem Spiegel.Eines Morgens erschien der ehrenwerte Roberto Z. in seiner Werkstatt und bat Max, den Riemen eines Koffers zu reparieren, in dem er seine von Tür zu Tür verkauften Produkte transportierte: Stoffe, Kosmetikartikel, Stifte. Einer dieser Klientelschiks , wie sie massenweise durch die Straßen der Stadt zogen. Max verlangte nichts für seine Reparatur und erhielt zum Dank einen Taschenspiegel mit einer emaillierten Rose auf der Rückseite.
    »Ein Erbstück von der Schwiegermutter, Gold wert!«
    Als Max Tage später in jenen Spiegel blickte, fasste er einen Entschluss. Er wusste nicht nur, wo Roberto Z. wohnte, sondern auch mit wem. Wahrscheinlich hatte Frida, seine Frau, ihm die Hölle heißgemacht, als sie feststellte, dass der Spiegel weg war. Er musste ihn zurückgeben und den armen Mann erlösen.
    In Lapa angekommen, klingelte er mit engelhaftem Lächeln an der Tür.
    »Na, so was«, wunderte sich Frida. »Wie kommen Sie denn zu dem Spiegel?«
    »Ihr Mann hat ihn mir gegeben …«
    Ihr Gesichtsausdruck machte Max stutzig: von wegen Erbstück! Ihn schauderte.
    »Ach, entschuldigen Sie, ich glaube, ich habe mich geirrt … Frohes neues Jahr, Dona Frida!«
    »Neues Jahr? Wir haben März, Senhor Kutner!« Dann kniff sie die Augen zusammen und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich weiß, was hier gespielt wird!«
    Max warf ihr einen erleichterten Blick zu, da riss ihm Frida den Spiegel aus der Hand und trommelte mit der Faust gegen die Tür der Nachbarin.
    »Mach sofort auf, du Flittchen! Komm raus!«
    Als eine rothaarige Frau öffnete, warf Frida ihr den Spiegel vor die Füße.
    »Lass gefälligst die Finger von meinem Mann, du hinterhältiges Luder! Hure!«
    Die Rothaarige sammelte die Scherben auf und rief: »Also hat er ihn gestohlen! Dieser elende Dieb! Mein geliebter Spiegel aus Limoges!«
    Ende der Geschichte: Frida und das Luder im Krankenhaus. Von Roberto Z. hörte man nie wieder etwas.
    Zwei Uhr morgens, Hauptmann Avelars Auftrag bereitete dem Schuhmacher schlaflose Stunden. Ein einziges Schmuckstück zierte das kleine Zimmer: das Bild seines verstorbenen Großvaters Shlomo, der ihm immer ein wichtiger Ratgeber gewesen war. Was meinst du, Sejde , Großvater, darf ich meine eigenen Landsleute ausspionieren? Was sagen die Weisen dazu? Mit erhobenem Finger erinnerte Shlomo ihn an die drei Arten von Fehlern, die er in der Schule gelernt hatte: die bewussten, die unabsichtlichen und die aus Trotz. Max hielt das Bild hoch: Und was ist mit Fehlern, zu denen man gezwungen wird, Sejde?
    »Die zählen nicht«, klärte der Großvater ihn auf. »Wenn etwas nicht aus Böswilligkeit oder Unachtsamkeit geschieht, warum sollte man sich dann die Schulddaran geben? Sie sind es, die sich schuldig machen, indem sie dich benutzen.«
    Max entgegnete: »Na, hör mal! Wer hat denn stets die ›Befehlsvollstrecker‹ verurteilt, die im Namen des Zaren mordeten und raubten? Wer hat immer gesagt, das Bewusstsein unterscheide die Menschen von den Tieren? Wie viele Helden haben ihr Leben gelassen, weil sie sich nicht von anderen benutzen lassen wollten?« Er schüttelte das Bild. »Soll das heißen, du hast dem russischen Soldaten vergeben?«
    Shlomo schwieg, er dachte zurück an den Winter 1915. Europa war vom Krieg zerstört, und die Polen waren in Richtung Westen geflohen. Die Russen würden jeden Moment in ihr Dorf einfallen, aber der sture Shlomo wollte partout nicht von der Stelle weichen. Hier war er geboren, hier hatte er achtzig Jahre lang gebetet, und hier wollte er seinen Enkel verheiraten. Er irrte durch die menschenleeren Straßen, ignorierte das Donnern der Kanonen und schimpfte über seine Landsleute. »Wären die Makkabäer genauso feige gewesen, wäre das Judentum schon vor Jahrtausenden ausgestorben!« Eines Tages hielt Shlomo ein Nickerchen, da klingelte es an der Tür. Als er öffnete, stand vor ihm ein rothaariger, sommersprossiger Soldat, ein russischer Jude, den er gleich in die Arme schloss.
    »Schalom!«,
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