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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe
Autoren: Ronaldo Wrobel
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Gefühl, die Vergangenheit präsentiere ihm die Rechnung, unbarmherzig wie ein Klientelschik , der an der Tür eines säumigen Kunden klopft.
    ***

    Rio de Janeiro, 5. April 1937
    Guita,
    es war alles ganz einfach, ein Blatt Papier und sonst nichts. Die Flitterwochen – ein Nachmittag im Zoo. Abends Karottensuppe mit Roggenbrot.
    Küsse, Hannah
    *

    Buenos Aires, 13. April 1937
    Flitterwochen im Zoo? Einfachheit hat auch ihre Grenzen, sei bitte nicht kindisch. Die Hochzeit zu feiernist ein Gebot. Manchmal glaube ich, Du hast die Verrücktheit unserer Mutter geerbt. Wo hast Du diesen Mann überhaupt kennengelernt?
    Guita
    *

    Buenos Aires, 14. April 1937
    Hannah, ich habe letzte Nacht schlecht geschlafen. Braucht ihr Geld? Scheue Dich nicht, mich um Hilfe zu bitten!
    Deine Guita
    *

    Rio de Janeiro, 24. April 1937
    Danke, Guita, aber wir brauchen kein Geld. Deine Liebe ist uns genug.
    Gute Nachricht: Josef mag José sehr gern.
    Küsse, Hannah
    * * *
    Die Kosaken fielen in das verlassene Dorf ein. Sie durchkämmten ganz Russland auf der Suche nach Soldaten für den Krimkrieg.
    »Wohnt hier niemand?«, fragte ihr Anführer. »Das kann nicht sein. Seht in den Häusern nach!«
    Sie stellten das ganze Dorf auf den Kopf und zerrten Frauen, Alte und Kinder nach draußen.
    »Wir brauchen junge Männer!«
    »Die sind alle zum Arbeiten in den Süden gegangen«, antwortete eine Frau.
    »Dann ruft den, der das gemacht hat!« Der Kosake zeigte auf eine Wand mit fünf Zielscheiben, in deren Mitte jeweils ein Pfeil steckte.
    Ein Mann betrat die Bühne.
    »Das war ich!«, erklärte er, die Hände in die Hüften gestemmt. »Was dagegen?«
    Gelächter. Der alte Moshe sah urkomisch aus in seinen roten Shorts, die Strümpfe bis zu den schlotternden Knien hochgezogen.
    »Setz dich hin, Moshe«, rief jemand im Publikum.
    Die anderen stimmten mit ein: »Hinsetzen, hinsetzen!«
    Die Krankenschwester brachte einen Stuhl, Moshe setzte sich.
    »Das war ich, aber ich bin ein lausiger Schütze!«
    Der Kosake zeigte auf die Pfeile. »Und wie erklärst du dir das?«
    Moshe zögerte, er wusste nicht, was er sagen sollte, und sah sich um.
    »Erklär schon!« Der Kosake wurde lauter. »Los, jetzt!«
    Stille.
    Eine alte Frau stieß Max an. »Sehen Sie, mein Lieber? Die Jugend ist ein Blumenkranz. Das Alter eine Dornenkrone.«
    »Moshe, jetzt mach schon!«, brummte der Kosake.
    Mit einem heldenhaften Zucken erklärte der Alte:»Also gut … Ich schieße zuerst die Pfeile ab, dann male ich die Zielscheiben.«
    Gelächter, Applaus. Die Krankenschwester beendete die Geschichte: »Und so führte ein kluger junger Mann die Kosaken an der Nase herum. Und jetzt gibt es Essen!«
    Max hatte bei einer jüdischen Köchin ein paar Kleinigkeiten bestellt. Er beklatschte das Theater der Alten, quasi um Sühne für seine Tätigkeit bei der Polizei zu leisten. Neben dem Besuch von Altenheimen reparierte er umsonst Schuhe, spendete Geld und kaufte den Klientelschiks ihre Ware ab. Doch nicht immer führten seine guten Taten zu dem gewünschten Ergebnis – oder zumindest nicht so wie erwartet. Wie die Geschichte von der Menora zeigt.
    Der Brief stammte von einem gewissen Sílvio T. Er war Mitte siebzig, wohnte in Méier und bot eine deutsche Menora aus dem 17. Jahrhundert zum Verkauf. Von dem Geld wollte er die Miete seines Pensionszimmers für die Zeit, die ihm noch blieb, bezahlen. Er beschrieb den Leuchter einem reichen Industriellen aus Buenos Aires und beklagte, dass es in Brasilien keine Interessenten – sprich wohlhabende Käufer – dafür gebe. Die krummen Linien zeugten von Arthrose. Gegen den Rat von Ärzten und anderen schwenkte Sílvio seine Menora regelmäßig vor den Elenden und Geizigen der Praça Onze.
    »Herr im Himmel!«, rief er. »Soll ich fast achtzig Jahre gelebt haben, um so zu enden?«
    Seine Hoffnung schwand, und die Beine prophezeiten einen aufsehenerregenden Sturz vor diesen Unmenschen, die ihm nicht einmal die Hand reichen würden – es sei denn natürlich, um ihm die Menora wegzunehmen. Aber Sílvio T. war ein Kämpfer. Am Ende jedes Tages pries er das gute Stück im Restaurant Schneider an.
    Max blutete das Herz. Wie war so viel Leid zu erklären? Und überhaupt, warum setzte Gott ihn davon in Kenntnis? Nichts geschieht einfach so, lieber Max! Wo wirst du das schmutzige Geld ausgeben, das dir die Polizei bezahlt? Wo, wenn nicht im Restaurant Schneider?
    Am nächsten Abend verließ der Schuhmacher seine Werkstatt mit einer
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