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Halbmondnacht

Halbmondnacht

Titel: Halbmondnacht
Autoren: Amanda Carlson
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Beispiel: es heißt ›mit seiner Hand‹, was männlich, aber auch sächlich sein könnte. Aber statt einem geschlechtsspezifisch eindeutigen ›der wahrhaft Fremde‹ steht da ›das wahrhaft Fremde›: statt Maskulinum also Neutrum. Es wäre daher durchaus möglich, dass es hier um den Lykan geht, der in dem Faksimile genannt wird, ja, sogar um den weiblichen Lykan, von dem dort die Rede ist. Ich für meinen Teil halte es sogar für sehr wahrscheinlich.« Er zeigte auf den Bildschirm und die Prophezeiung. »Diese Webseite ist erst seit weniger als zwölf Stunden online, und der Link ist direkt an mich gemailt worden. Ich habe keine digitale Signatur zurückverfolgen können. Ich weiß nicht einmal, in welchem Land der Ausgangsserver steht. Der genaue Wortlaut der Prophezeiung, der in der übersandten Faksimile-Kopie zu lesen ist, kommt in den Sammlungen der Rechte und Gesetze des Rudels nicht vor. Daher kann ich die Prophezeiung auch nicht für authentisch erklären. Aber es finden sich genügend Formulierungen, aufgrund derer ich annehme, dass die Prophezeiung echt ist und im Kern auch wahr. Zumindest ist sie eine Version der Wahrheit   – und eine Spur zu deiner wahren Identität.«
    In der Sammlung der Rechte und Gesetze der Werwölfe, unserer Bibel sozusagen, fehlten manche Einträge, andere waren rußgeschwärzt bis zur Unlesbarkeit; der Codex war einem Feuer zum Opfer gefallen, lange bevor er meinem Vater anvertraut worden war. Wenn es eine Art Werwolf-Prophezeiung gegeben haben sollte, war sie vielleicht in diesen Passagen verzeichnet gewesen. Dass Lykaner in unseren Überlieferungen auftauchten, war keine Überraschung. Schließlich waren sie unsere Vorfahren.
    Ich blickte meinen Vater an. »Ich bin nicht bereit, das einfach so als wahr zu akzeptieren. Diese sogenannte Prophezeiung sehen wir zum ersten Mal, und das ausgerechnet im Internet. Außerdem ähnelt sie zu sehr dem Kain-Mythos, das kann kein Zufall sein. Die Person, die den Link zur Lykan-Prophezeiung an Devon geschickt hat, wird auch dahinterstecken, dass das Habitat damals von dem Mythos erfahren hat.«
    »Wahrscheinlich.« Mein Vater nickte. »Aber beim Kain-Mythos ist klar zu erkennen, dass er auf unsere Art zugeschnitten worden war   – nur auf uns. Ziel war es, Hass gegen dich zu säen, vom Tag deiner Geburt an.«
    »Aber aus welchem Grund?«, fragte ich. Für eine Intrige gegen mich kam mir das Ganze viel zu kompliziert vor.
    »Angst. Wer uns Mythos und Prophezeiung gezielt zugespielt hat, den beunruhigt, dass du, einmal erwachsen, zu stark werden könntest. Und genau das, dass du stark bist, erweist sich ja gerade. Als der Mythos verbreitet wurde, warst du noch ein Kind. Es gab keine Möglichkeit, dich direkt anzugehen. Der beste Weg, dein Ende heraufzubeschwören, war also, dafür zu sorgen, dass die Wölfe dich von Anfang an am liebsten tot sehen würden. Der Kain-Mythos hat als Instrument gegen dich reibungslos funktioniert. Die Wölfe haben ihren Verstand ausgeschaltet und empfinden dir gegenüber nichts als Angst. Du läutest für sie das Ende unserer Art ein. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hättest du deinen sechzehnten Geburtstag nicht erlebt.«
    Ich konnte den Kain-Mythos im Schlaf hersagen.

    Wenn das Weib in der Haut des Wolfes heranwächst,
    ist die ungeborene Tochter des Kain zur Welt gekommen;
    in ihr wird die Bestie schlummern,
    verborgen sein wird ihre wahre Gestalt;
    von diesem Tage an werden die Wölfe der Nacht bezahlen;
    Fleisch und Blut wird ihre machtvolle Hand
    ihnen von den Knochen ziehen;
    die Art der Wölfe wird untergehen;
    wenn die Tochter des Bösen die Herrschaft ergreift.
    Den Blick fest auf meinen Vater gerichtet, hob ich fragend eine Augenbraue. »Wenn es in unseren Überlieferungen bereits Hinweise auf den Wahren Lykan gab, warum haben die Rudel dann nicht schon vor einiger Zeit das Puzzle zusammengesetzt und den Mythos auf mich bezogen? Warum erst jetzt?«
    Die Augen meines Vaters blitzten violett auf. Ich empfand, was er empfand. Es prickelte in meinen Adern, als das Blut, das wir seit dem Bluteid teilten, in mir zu brodeln begann. Es waren seine Gefühle, viele unterschiedliche, eine ganze Flut davon. Aber vor allem war es Liebe.
    »Gerüchte über ein machtvolles Wesen, Y Gwir Lycae , den Wahren Lykan, der sich eines Tages über alle anderen erheben würde, gibt es schon, solange ich denken kann. Sie gehören zu den Märchen, die die Ältesten am Ende langer Tage mit einem Becher Met in der Hand
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