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Halbmondnacht

Halbmondnacht

Titel: Halbmondnacht
Autoren: Amanda Carlson
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meines Vaters lagen immer noch zusammengefaltet auf der Tischplatte. Er wirkte wie die Ruhe selbst, beherrscht; genau der Richtige, um Verantwortung zu übernehmen. Mit einem Kopfnicken forderte er Devon auf, weiterzusprechen, während ich um den Tisch herumtigerte. Die Angst, die Devon, das rudeleigene Computergenie, wie eine Aura umgab, machte meine Wölfin nervös.
    Er räusperte sich, ehe er fortfuhr: »Ähm, nun, nach dem, was hier steht   …« Ich blieb hinter ihm stehen und beugte mich über seine Schulter. Ich wollte selbst lesen, was auf dem Bildschirm stand. Der Text schien von einem Foto zu stammen, und zwar von einem, das nicht gerade sonderlich scharf war. Das abgebildete Pergament sah brüchig und uralt aus, die Tinte war verblasst. Es wirkte beinahe, als wäre sie irgendwann, bevor das Dokument fotografiert wurde, mit einer scharfen Klinge abgeschabt worden.
    DIE PROPHEZEIUNG VON
DES WAHREN LYKANS ERWECKUNG
    Auf Erden wird wieder wandeln die Eine,
    geboren zur Herrschaft über alle,
    Verborgen in wahrer Gestalt,
    der schlafenden Bestie Versteck und Falle,
    Von diesem Tage an, so sei’s,
    zahlen wahrlich die Kinder der Nacht,
    Unter allwaltender Herrschaft der Einen
    die Gerechtigkeit erwacht,
    Sie herrscht über Leben und Tod,
    niemand kann ihr gleichen,
    Denn ihr, dem wahren Lykan,
    muss alles Böse weichen.
    Ich wandte mich ab und marschierte wieder ruhelos durch das Zimmer. »Was da steht, ergibt doch keinen Sinn. Sollte an der Prophezeiung etwas dran sein, warum haben wir Wölfe dann keine eigenen Aufzeichnungen darüber? Das könnte sich auch irgendjemand aus den Fingern gesogen haben; das Ding da kursiert immerhin im Internet, Herrgott noch mal! Das könnten die dilettantischen Ergüsse eines sechzehnjährigen Nerds undFantasy-Fans sein, der sich eine Geschichte ausgedacht hat, in der eine Werwölfin die Weltherrschaft übernimmt. Wahrscheinlich hat er irgendwo einen Comic mit einer heißen Tussi gesehen, die sich gerade in eine Wölfin verwandelt, und seine Libido ist durch die Decke geschossen.«
    Bis mir endlich jemand antwortete, war ich schon wieder zweimal durch den Raum gewandert.
    »Tja.« Devon zögerte, sprach dann aber weiter: »Eigentlich ist das nicht die einzige Referenzstelle, die ich gefunden habe …«
    Ich fuhr herum und starrte ihn an. »Wie bitte? Was soll das nun heißen? Etwa, dass das, was in dieser Prophezeiung steht, tatsächlich wahr sein könnte?« Schon spürte ich direkt unter der Haut das impulsive Kribbeln einer bevorstehenden Wandlung; meine Muskeln in Armen und Beinen spannten sich bereits erwartungsvoll an.
    Mit Gefühlswallungen tun sich Wölfe nun einmal schwer.
    Je heftiger sie sind, desto mehr lösen sie in uns aus. Man könnte sie mit einem brennenden Streichholz vergleichen, das man an eine Butangasflasche mit offenem Ventil hält. Da eine Wölfin zu sein für mich noch neu war, musste ich mich sehr anstrengen, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Dabei half es wenig, dass ich übermüdet war und mir Sorgen darüber machte, wie ich Rourke aufspüren sollte. Nicht zu vergessen das klitzekleine Problem, das ich einer durchgeknallten Gottheit verdankte, die mich umbringen wollte und mich mit einem Todesbann belegt hatte, der nun in meinen Adern zirkulierte.
    »Ich fürchte, dass es mehr als nur eine vage Möglichkeit ist«, antwortete Devon. »Die Prophezeiung selbst dürfte sehr alt sein und liegt heute daher in verschiedenen, voneinander mehr oder weniger abweichenden Varianten vor. Denn Texte verändern sich im Laufe ihrer mündlichen und schriftlichen Weitergabe, vor allem wenn sie über Jahrhunderte hinweg in eine ganze Reihe von Sprachen übertragen und dabei jedes Mal neu ausgelegt wurden.Die handschriftliche Quelle, die uns hier als Faksimile zugänglich ist, ist wahrscheinlich eine relativ freie Übertragung der ursprünglichen Prophezeiung.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf den Bildschirm, auf dem der Text immer noch zu sehen war. »Ich habe in den ältesten Überlieferungen des Rudels nach Referenzstellen zum Wahren Lykan gesucht und mehrere Querverweise gefunden: Es heißt dort, das wahrhaft Fremde werde über die Erde wandeln. Es sei anders als alle und verschaffe mit allwaltender Herrschaft der Gerechtigkeit Geltung. Die Parallele ist klar. Nur wird nirgends, nicht ein einziges Mal in all den Quellen, grammatisch die weibliche Form benutzt. Allerdings fehlt die männliche Form an allen Stellen, wo sie grammatisch eindeutig wäre.
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