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Hahn, Nikola

Hahn, Nikola

Titel: Hahn, Nikola
Autoren: Die Farbe von Kristall
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verging quälend,
die Nacht verbrachte sie schlaflos.
    Der Zug
ging früh. Das Gepäck war aufgegeben, das Billett bestellt, alles geregelt.
Vicki nahm sie in den Arm, Andreas drückte ihre Hand. Ihr Vater brummte Gute
Reise, und David strich ihr übers Haar, wie es ein großer Bruder bei der
kleinen
    Schwester
tut, nur daß sie die große Schwester und er der kleine Bruder war. Sie atmete
auf, als der Kutscher ihr in den Wagen half, und sie war ihm dankbar, daß er
schwieg.
    Der
Bahnhof war menschenleer. Auf dem Perron wehte ein eisiger Wind. Fröstelnd
stieg Victoria in das reservierte Erste-Klasse-Abteil. Sie setzte sich ans
Fenster. Ihr Gesicht spiegelte sich im Glas. Ein Schaffner kam herein. »Frau
Biddling?«
    Sie
nickte. Er gab ihr ein Päckchen. »Mit den besten Wünschen für eine angenehme
Reise.«
    »Von
wem?«
    »Ich
bedaure. Der Herr wollte seinen Namen nicht nennen.«
    Ein
schrilles Pfeifen. Der Zug fuhr an. Victoria zog das Fenster auf. Er stand
neben einem Perronpfeiler, den Hut in der Hand. Sie winkte, und er winkte
zurück, und sie wünschte sich, sie hätte ihm ein letztes Wort zum Abschied
sagen können. Der Waggon ratterte über eine Weiche, der Wind zerzauste ihr
Haar, sie fror. Aber selbst als die Lichter der Stadt im Dunkel verschwunden
waren, brachte sie es nicht fertig, das Fenster zu schließen. Die Wölken hatten
sich verzogen. Es roch nach Schnee. Am Himmel glänzten Sterne. Blinkte nicht
einer davon besonders hell?
    Sie
öffnete das Päckchen nach dem ersten Halt. Es enthielt ein Buch von Friedrich
Stoltze, und die abgegriffenen Seiten ließen erahnen, wie oft Heiner Braun
darin gelesen haben mußte. An einer Stelle war ein Lesezeichen eingelegt. Ein
Gedicht über den Tod, die Hoffnung und das Leben. Darunter die
handschriftliche Notiz:
    Ich bin
guten Mutes, daß Sie die Antwort finden werden, Victoria. Vergessen Sie
Frankfurt nicht.
    Sie
dachte an das, was hinter ihr lag, und an das, was vor ihr lag. Und während ihr
die Tränen übers Gesicht liefen, fühlte sie eine Zuversicht, die sie lächeln
ließ. Sie würde ihn wiedersehen. Ganz bestimmt.
     
    Abendblatt
    Samstag, 12.November 1904
    Frankfurter
Zeitung und Handelsblatt
     
    Rote
Plakate an den Anschlagsäulen verkündeten heute in aller Frühe: »Der Möbelträger
Oskar Bruno Groß, geb. 9-Novbr. 1876 zu Werdau in Sachsen, und der Pferdeknecht
August Heinrich Friedrich Stafforst, geb. 14. Juli 1879 zu Goslar, sind heute
Morgen 7 Uhr 45 Minuten im Hof des königlichen Strafgefängnisses zu
Preungesheim durch Enthauptung hingerichtet worden.«
    Der Hinrichtung
wohnten u. a. bei: der Erste Staatsanwalt von Reden, der Verteidiger
Stafforsts, der Vorsitzende des Schwurgerichts, Gerichts- und andere Ärzte,
Gefängnis- und Polizeibeamte, ferner die zwölf gesetzlichen Zeugen, insgesamt
etwa 50 Personen. Um 7 Uhr 43 Minuten ertönte die Armesünderglocke.
Währenddessen wurde Stafforst aus seiner Zelle geführt und dem Ersten Staatsanwalt
von Reden vorgestellt, der das Urteil verlas. Stafforst verbeugte sich. Der
Staatsanwalt wandte sich an den Scharfrichter mit den Worten: »Ich übergebe
Ihnen hiermit den Delinquenten, walten Sie Ihres Amtes!« Im Augenblick erfaßten
zwei Gehilfen Stafforst, nahmen ihm den übergehängten Rock ab und schlugen das
Hemd zurück. Dann zogen sie ihn über die Bank. Der dritte Gehilfe hielt den
Kopf
    auf den
Klotz. Der Scharfrichter faßte sein Beil und trennte den Kopf vom Rumpfe. Das
Haupt fiel in eine Kiste mit Sägemehl. Der Rumpf wurde sofort in den bereitstehenden
Sarg gelegt.
    Der
Schlag, unter dem Stafforst sein Leben ließ, war so fest geführt, daß das Beil
tief in den Block eindrang, sich festklemmte und durch Hammerschläge losgelöst
werden mußte. Rasch wurde der Richtblock abgewaschen.
    Um 7
Uhr 47 Minuten ertönte das Glöcklein zum zweiten Male. Groß wurde vorgeführt
und hörte gleichfalls gefaßt das Urteil an. Groß nahm das Schriftstück in die
Hand, las es und gab es zurück mit den Worten: »So wahr ich hier stehe, Stafforst
hat den Mann erschlagen.«
    Die
Henker faßten ihn. Um 7 Uhr 48 fuhr der Leichenwagen vor, nahm die Särge auf
und verbrachte sie zum Preungesheimer Friedhof, wo während der Hinrichtung von
vier Männern zwei Gräber an der Friedhofsmauer gegraben worden waren.
    Es sei
noch erwähnt, daß die letzte Hinrichtung in Frankfurt am 7. Juni 1799 auf dem
Roßmarkt vollzogen wurde.
     
    Epilog
     
    Ich bin
ein deutscher Fechter,
    Bekannt
im deutschen Land,
    Nennt
man
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