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Gute Nacht, Peggy Sue

Gute Nacht, Peggy Sue

Titel: Gute Nacht, Peggy Sue
Autoren: Tess Gerritsen
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glitt hinüber.
    Keuchend fiel sie auf die Decksplanken.
Keine Zeit! Keine Zeit!
Sie kam mühsam auf die Beine und rannte zur Steuerbordseite, bereit, sofort auf den Pier hinunterzuspringen.
    Zu spät. Shradick hatte die Abzweigung zum nächsten Pier fast erreicht. Ihr Fluchtweg war abgeschnitten.
    Sie rannte zum Ruderhaus des Schiffes, riß an der Tür. Sie war verschlossen.
Was jetzt? Zurück ins Wasser?
    In ihrer Verzweiflung lief sie zurück zum Heck und starrte in das aufgewühlte Wasser hinunter, wappnete sich für den nächsten Sprung. Dabei wurde ihr klar, daß ihre Kräfte für eine Fortsetzung der Flucht durchs Wasser nicht mehr ausreichten. Sie zitterte vor Kälte am ganzen Körper. Die nächsten zehn Minuten im Wasser würde sie nicht lebend überstehen.
    Sie sah zum Kai hinüber. Shradick bog auf den Pier ein und sprintete auf den Trawler zu.
    Ihr Blick schweifte zurück zum Heck. Dort stach ihr plötzlich von einer Deckskiste ein Wort in grellroten Buchstaben ins Auge.
Rettungsmittel.
    Sie riß den Lukendeckel auf. Drinnen lagen Rettungswesten, Decken, Handwerkszeug.
    Und eine Signalpistole.
    Sie packte sie, steckte mit zitternden Händen eine Patrone in den Lauf und spannte den Hahn. Ein Schuß … mehr hatte sie nicht. Das war ihre einzige Chance.
    Shradicks Schritte hallten über die Planken des Piers.
    M. J. wirbelte herum und lief geduckt zur Backbordseite des Ruderhauses. Dort kauerte sie sich hin, wartete, horchte. Sie hörte, daß er irgendwo an der Steuerbordseite am Pier stehenblieb. Dann gab es einen leisen, metallisch dumpfen Aufschlag, als er an Bord sprang.
    Von wo kam er? Von achtern oder von vorn?
    Sie setzte alles auf eine Karte, entschied sich für eine Richtung und bewegte sich vorsichtig auf den Bug zu. Als sie die Ecke des Ruderhauses erreicht hatte, kauerte sie sich abermals hin. Kein Geräusch war zu hören. Kein Schritt, nichts. Nur das Rauschen ihres Blutes in den Ohren.
    Dann plötzlich war er da. Er trat unmittelbar vor ihr hinter der Ecke des Ruderhauses hervor. Kein Funken Mitleid lag in seinem Blick. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Er brachte die Pistole in Anschlag.
    M. J. riß die Signalpistole hoch und drückte ab.
    Sein Schrei klang wie der eines wilden Tieres, der sich über das Heulen des Windes erhob. Er taumelte rückwärts. Phosphorfunken schlugen zischend aus seiner Brust. Seine Waffe fiel scheppernd aufs Deck. M. J. machte einen Satz vorwärts und hob sie auf. Shradick fiel auf den Rücken, zuckte und schrie vor Schmerz und riß an seinen Kleidern. M. J. hielt seine Waffe umklammert, stand über ihm, den Lauf auf seinen Kopf gerichtet.
Ich könnte abdrücken,
dachte sie.
Ich könnte dich töten. Bei Gott, das würde ich gern tun.
    Aber dann stand sie nur da und sah zu, wie er zuckte. Die Todesangst und die Erschöpfung hatten sie paralysiert. Sie war unfähig, sich zu bewegen. Sie hatte Angst, ihm den Rücken zuzukehren – und sei es nur für einen Augenblick – hatte Angst, er könnte sich plötzlich wie ein Monster wieder aus seinem Grab erheben. Also hielt sie weiter die Waffe auf ihn gerichtet. So stand sie noch immer da, als Sirenengeheul näher kam, und ließ sich auch vom tosenden Wind nicht beirren, der an ihren nassen Haaren und Kleidern zerrte. Sie hörte das Zuschlagen von Wagentüren, hörte Schritte auf dem Pier. Erst als der Befehl »Waffe fallen lassen!« zum zweiten Mal ertönte, sah sie auf.
    Zwei Polizisten standen auf dem Pier, die Waffen auf sie gerichtet.
    »Waffe fallen lassen, oder wir schießen!« brüllte der eine.
    Sie ließ die Waffe los und stieß sie über die Decksplanken weit von sich, außer Shradicks Reichweite. Dann drehte sie sich langsam zu den Polizisten um und stolperte zur Reling.
    »Helfen Sie mir«, sagte sie. Sie streckte die Arme nach ihnen aus. Ihre Stimme war nur noch ein Stöhnen. »
Helfen Sie mir …
«
    Sein Puls war noch da. Sie kauerte im Dunkeln des Schuppens neben ihm und fühlte ein schwaches Pochen an Adams Halsschlagader. »Er lebt!« rief sie.
    Der Polizist richtete seine Taschenlampe auf ihn. Der Lichtkegel erfaßte Adams blutdurchtränkte Hemdbrust. »Jesus«, keuchte der Polizist und wirbelte herum. »Ruf sofort einen Krankenwagen!« brüllte er seinem Kollegen zu.
    »Adam«, flüsterte M. J. Sie strich ihm das Haar zurück, hob seinen Kopf in ihren Schoß. »Adam, du mußt leben. Hörst du mich? Verdammt,
du mußt leben!
«
    Er antwortete nicht. Alles, was sie hörte, waren seine Atemzüge. Sie
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