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Gute Nacht, Peggy Sue

Gute Nacht, Peggy Sue

Titel: Gute Nacht, Peggy Sue
Autoren: Tess Gerritsen
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Teufel ist das?« fragte er und deutete auf das Glas. Der gute alte Vince scheute sich nie, sich eine Blöße zu geben.
    »Der mittlere Teil eines rechten Lungenlappens«, antwortete M. J.
    »Hätte auf ein Gehirn getippt.«
    Beamis lachte. »Deshalb ist sie auch der Doc, und du bist der dämliche Cop.« Er rückte seine Krawatte zurecht und sah sie an. »Ist nicht Ratchet für die Leiche zuständig?«
    M. J. zog ein Paar Gummihandschuhe an. »Ich fürchte, Sie müssen schon mit mir vorlieb nehmen.«
    »Dachte, Ihre Schicht fängt erst um acht Uhr an.«
    »Erzählen Sie mir lieber, was Sie wissen.« Sie trat an den Obduktionstisch und starrte auf den Leichensack. Sie zögerte wie immer, den Reißverschluß zu öffnen und zu entblößen, was sich unter der Plastikhülle verbarg.
Wie viele dieser Leichensäcke habe ich schon aufgemacht?
fragte sie sich. Hundert, zweihundert? Jeder einzelne enthielt seine ganz spezielle Horrorgeschichte. Den Reißverschluß aufzuziehen war immer der schwierigste Teil. Erst wenn die Leiche unverhüllt vor ihr lag und sie den Schock des ersten Anblicks überwunden hatte, konnte sie sich mit der Leidenschaftslosigkeit der Wissenschaftlerin an die Arbeit machen. Jener erste Blick jedoch, die erste Reaktion … das war stets eine rein emotionale Angelegenheit, etwas, das sie nicht unter Kontrolle hatte.
    »Also gut, Jungs«, meinte sie. »Was haben wir hier?«
    Shradick trat vor und klappte sein Notizbuch auf. Es war nicht wegzudenken von ihm, dieses Notizbuch. Sie hatte ihn nie ohne erlebt. »Weiß, weiblich, keine Ausweispapiere, zwischen zwanzig und dreißig. Die Leiche wurde gegen vier Uhr heute morgen in South Lexington gefunden. Keine Anzeichen äußerer Gewalteinwirkung, keine Zeugen, gar nichts …«
    »South Lexington«, wiederholte M. J., und Bilder der Gegend tauchten unwillkürlich vor ihrem geistigen Auge auf. Sie kannte den Stadtteil besser, als ihr lieb war … kannte die Straßen, die dunklen Gassen, die Spielplätze hinter Stacheldrahtzäunen. Und über alldem thronten sieben Hochhäuser, so trostlos und drohend, wie zwanzig Stockwerk hohe Grabsteine aus Beton nur sein konnten. »In den Projects?« fragte sie.
    »Wo sonst?«
    »Wer hat sie gefunden?«
    »Die städtische Müllabfuhr«, sagte Beamis. »In einem Durchgang zwischen zwei Häusern der Projects. Sie lehnte an einem Müllcontainer.«
    »So als habe man sie dort hingesetzt? Oder als sei sie dort gestorben?«
    Beamis sah Shradick an. »Du bist zuerst am Tatort gewesen. Was meinst du, Vince?«
    »Sah mir so aus, als sei sie dort abgekratzt. Lag einfach da. Hat sich wohl vor dem Müllcontainer zusammengekauert und den Löffel abgegeben.«
    Es war Zeit. Sie wappnete sich für den ersten Blick. M. J. griff nach dem Reißverschluß und zog ihn auf. Beamis und Shradick machten beide einen Schritt zurück. Das war eine instinktive Reaktion, die sie gewaltsam unterdrücken mußte. Der Reißverschluß öffnete sich, die Plastikhülle fiel auseinander, und die Leiche lag vor ihr.
    Ihr Zustand war nicht weiter schlimm. Zumindest schien sie rein äußerlich unversehrt zu sein. Verglichen mit anderen Leichen, die sie in ihrem Leben schon gesehen hatte, war diese in geradezu blendender Verfassung. Die Frau hatte gebleichtes, blondes Haar und war um die dreißig, vielleicht sogar jünger. Ihr Gesicht wirkte wie blanker Marmor, bleich und kalt. Sie trug einen langärmligen, roten Pullover aus einem Polyestergemisch, einen kurzen, schwarzen Rock mit Ledergürtel, eine schwarze Strumpfhose und nagelneue Nikes. Ihr einziger Schmuck bestand aus einem billigen Kaufhaus-Freundschaftsring und einer Timex-Uhr … die noch tickte. Die Totenstarre hatte längst eingesetzt. Ihr Körper verharrte in einer Art fötalen Haltung. Beide Fäuste waren fest geschlossen, als habe sie vor ihrem Tod an Krämpfen gelitten.
    M. J. machte ein paar Fotos, dann griff sie nach einem Kassettenrecorder und begann zu diktieren. »Opfer weiblich, weiß und blond. Fundort ein schmaler Durchgang zwischen zwei Häusern in South Lexington gegen vier Uhr morgens …«
    Beamis und Shradick, die die Prozedur bereits kannten, entledigten sich ihrer Jacketts und griffen sich OP-Kleidung aus einem grünen Leinensack … Größe M für Beamis, und XXL für Shradick. Als nächstes kamen die Handschuhe. Die beiden waren altgediente Polizisten und seit vier Monaten Partner. Ein seltsames Paar, dachte M. J. Fast wie Abbott und Costello. Soweit allerdings schien die Partnerschaft
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