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Gute Nacht Jakob

Gute Nacht Jakob

Titel: Gute Nacht Jakob
Autoren: Hans G. Bentz
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einzugewöhnen. Die Großeltern hatten ihn rührend empfangen, mit Mehlwürmern und Schabfleischkugeln. Aber er suchte die Freiheit. In allen Winkeln der Wohnung suchte er nur sie, und oft, wenn er sie unter keinem Tisch, unter keinem Vorhang gefunden, kam er zu mir: »Kakao... tschack-tschack... alter Betrüger!« Und seine hellen Augen drangen mir fragend in die Seele.
    »Hör zu, Jaköbchen«, sagte ich und kraulte seinen Kopf, »du mußt nur ein bißchen aushalten, nicht wahr? Und dann fahren wir schon wieder weg — ans Meer. Was wirst du nur dazu sagen! Stell dir vor: ein Wasser ohne Ufer. Man steht davor, und es ist vor einem wie eine gewaltige, rauschende Wand, die im nächsten Augenblick über einen stürzt. Wenn die Ebbe kommt, lasse ich dich ganz nahe ans Wasser, da kannst du Muscheln sammeln. Tausende liegen da in langen, weißen Linien, die den ganzen Strand entlanglaufen, bis das Auge vor lauter Glanz nichts mehr sieht. Du kannst kaputtmachen, so viele du willst. Und du kannst mit Taschenkrebsen kämpfen — aber sieh dich vor, sie laufen seitwärts und kneifen —, und du kannst Seesterne sammeln und Korallen und Krabben und Würmer. Und es gibt auch Kameraden da, sie krähen wie die Krähen, aber sie sind weiß und heißen Möwen und reiten auf dem Wind. Ich glaube, ich werde dich verteidigen müssen gegen sie. Auf alle Fälle werde ich mit geladenem Luftgewehr hinter dir stehen, du brauchst dich nicht vor ihnen zu fürchten...«
    Zwischendurch ging ich zur Schule. Eine komplizierte Angelegenheit, denn ich hatte wegen meines Krankheitsurlaubs viel nachzuholen. Ich mimte auf hinfällig und schonungsbedürftig, aber das kostete fast soviel Nerven wie das Lernen.
    Jakob konnte jetzt schon ziemlich gut fliegen. Wenn ich bei der Lebensmittelhandlung von Lemke um die Ecke bog, strich mir immer schon ein schwarzer Schatten vom Balkongeländer entgegen, landete auf meiner Schulter und knabberte mir mit zärtlichem Tschack-tschack am Ohrläppchen. Dann war ich wieder daheim, geborgen in der Liebe meines kleinen Kameraden. Und hatten wir nicht in der Religionsstunde gelernt, daß die Liebe stärker sei als der Tod?
    An einem Nachmittag gegen Ende Juni hatte Opapa die Völkerschlacht bei Leipzig aufgebaut. Ich mußte ihm dabei helfen. Wir hatten beide Platten nebeneinandergestellt. Auf ihren Feldherrnhügeln standen die beiderseitigen Stäbe, zwischen ihnen die tiefgegliederten Bataillone. Es war ein prachtvolles Schlachtengemälde. Jakob war hinter dem Sofa mit der Sortierung irgendwelcher Schätze beschäftigt, wir hörten ihn nur ab und zu vor sich hinreden, irgend etwas klapperte und splitterte.
    Müde vom Sitzen, waren Opapa und ich dann auf den Balkon hinausgetreten und sahen auf die stille Welt hinunter. Plötzlich hörte ich ein seltsames Geräusch nebenan. Ein leichtes Klirren. Jetzt hatte es auch Opapa gehört. Wir sahen uns an, schlichen ins Zimmer zurück und erstarrten dort. Jakob war aus seiner Ecke aufgetaucht und hatte sich auf die Platten mit der Völkerschlacht geschwungen. Endlich war sein Traum erfüllt, und er kostete ihn nach Kräften aus. Zunächst tippte er immer den ersten Soldaten einer Reihe an, worauf die ganze Reihe umfiel. Die Alte Garde war auf diese Weise schon restlos niedergemacht. Gerade hatte er einen Fahnenträger vor und hieb ihm den Kopf ab. Dann schob er eine ganze Batterie vor sich her, daß sie über den Rand kollerte. Und jetzt nahm er Kurs auf den französischen Feldherrnhügel, wo der Herr mit dem Dreispitz und der historischen grünen Jägeruniform stand und durch das Fernrohr schaute. Napoleon, Opapas Lieblingsfigur! Gerade, als Jakobs Schnabel ihn ergriff, hatte ich das, was hinter dem Schnabel war, in der Faust.
    Krächzend ließ Jakob Napoleon fallen, er hieb wild um sich, unter allen Umständen wollte er dieses herrliche Spiel fortsetzen. Opapa war ganz blaß. »Also... das geht zu weit«, murmelte er, »das geht zu weit...«
    »Warte, Opapa, einen Moment«, bat ich, »ich bring bloß Jakob in die Küche und hau ihm den Po voll, dann helfe ich dir, die Artillerie aufzuheben!« Opapa antwortete mit einem unheilvollen Schweigen.
    Ich klopfte Jakob draußen in der Küche den Federpopo voll, sperrte ihn ins Bauer und rannte wieder nach vom. Dort baute Opapa mit tragischer Miene die Alte Garde wieder auf, während ich mich anschickte, die Kanonen von der Erde aufzusammeln und die verbogenen Achsen und Räder heimlich, so gut es ging, wieder geradezubiegen.
    »Du
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