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Gute Nacht Jakob

Gute Nacht Jakob

Titel: Gute Nacht Jakob
Autoren: Hans G. Bentz
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offensichtlich ein Versuch, das Wort nachzusprechen.
    Korbinian lachte: »Sie scheinen den richtigen Namen getroffen zu haben!«
    »Alle Dohlen heißen Jakob«, verkündete ich. Und als er mich verblüfft ansah: »Ich hatte nämlich mal eine zahme Dohle. Das erste eigene Tier in meinem Leben.«
    »Wann war das?«
    Ich seufzte: »Ach, Korbinian, das war vor vierzig Jahren. Noch vor dem Ersten Weltkrieg. In der guten alten Zeit.«
    Er sah mich aufmerksam an: »Gab es so was: Gute alte Zeit?« Und als ich grübelnd schwieg: »Ist das nicht nur — so — Rückerinnerung, die alles schöner macht?« Und als er mich anblickte, sah ich auf dem Grunde seiner Augen die Feuer des Krieges, die Eissteppen Rußlands, die toten Kameraden, die geschändeten Frauen, die Trümmer der Städte. Ich wandte mein Auge von ihm und sah hinüber nach dem Gutshof. Dort kamen sie vom Feld, hinter den hochbepackten Heuwagen, die Rechen über der Schulter, braun und von gutem, ehrlichem Schweiße naß, in goldene Wolken des Staubes gehüllt.
    »Doch, Korbinian«, sagte ich leise, »es gab so etwas wie eine gute alte Zeit.«
    »Sie kommt nicht wieder«, erwiderte er bitter, »die Menschen, die sie schufen, haben sie auch verspielt.«
    In mir stieg ein leichter Ärger hoch (vielleicht gerade weil ich ihm recht geben mußte): »Erstens, Korbinian, wartet mal ab, wie euch eure Kinder dereinst beurteilen. Zweitens: Diese Zeit kommt gewiß nicht wieder. Nichts wiederholt sich. Aber eines sage ich Ihnen: Ehe wir nicht den tiefen, wirklichen Frieden bekommen, den wir damals zu haben uns einbildeten, wird nichts Gescheites aus dieser Welt! Wir sollten aus unserer Angst, unserer Unrast, unserem ewigen Von-Tag-zu-Tag-Leben keine Tugend machen. Es ist keine. Es ist ein Vegetieren, kein würdiges Leben. Es ist Urwald, Dschungel — bestenfalls.«
    Er legte mir die Hand auf den Arm und lächelte mich an. Welch ein trauriges, wissendes, uraltes Lächeln. Und plötzlich kam ich mir ihm gegenüber vor wie ein kleiner Junge — wie — ein kleiner Junge... Aus weiter Ferne seine Stimme: »Kommen Sie, erzählen Sie mir von Ihrem Jakob — und von der guten alten Zeit!«
    Ich starrte zu dem schwarzen Wesen auf dem Ast hinüber, das jetzt gerade seine Schwanzfedern sortierte. Jakob — mein Jaköbchen — wie kam es nur, daß ich dich so vergaß? Ich schloß die Augen. Und als ich es tat, war es, als fiele ich rücklings in einen tiefen Brunnen, in den tiefen, tiefen Brunnen der Vergangenheit — abwärts — sausender Sturz...

DAS HEIM

    Und da ist der Schwindel wieder hinter meinen Augenlidern. Ich reiße sie auf. Wie sehe ich aus?
    Ein kleiner blasser Blondschopf von elf Jahren trabt auf viel zu dünnen Beinen durch eine große, dunkle Wohnung in einem Vorort Berlins. In dieser Wohnung gibt es sieben Zimmer mit hohen, stuckverzierten Decken und großen Kaminen, alle verbunden durch einen langen Flur, der immer in Finsternis liegt und den des Abends nur eine kümmerlich puffende Gasflamme erhellt.
    Gleich, wenn man von außen in die Schlucht dieses Flurs tritt, auf der linken Seite, ist die Tür zur Bibliothek. Ich öffne sie. — Muß mich doch richtig erst wieder daran gewöhnen, daß ich die Klinke gerade vor der Nase habe und zu mir herunterziehe, statt sie von oben niederzudrücken, wie ich das später als Erwachsener tat.
    Und jetzt, da ich im Zimmer bin, ragen die Bücherregale wie Häuser über mir empor. Ich muß mir einen Stuhl nehmen, und selbst damit reiche ich noch nicht an die oberste Reihe. Den beiden Ritterrüstungen, die in den Ecken stehen, geht mein Kopf gerade bis an die gepanzerten Fäuste, die auf den Schwertgriffen ruhen. Ich sehe es lieber, wenn sie die Visiere geschlossen haben, obwohl sie da sehr bedrohlich ausschauen. Aber wenn die Mama beim Staubwischen an die Visiere kommt und sie aufgeklappt läßt, ist es noch unheimlicher. Dann sieht man in die Finsternis der hohlen Köpfe, und vor diesem dunklen Nichts habe ich ein drückendes, leeres Gefühl im Magen.
    Natürlich lasse ich mir nichts anmerken; denn im Moment, da ich das Zimmer betrete, bin ich ein edler Sarazene, der auf die Galeere des Roten Falken, des berühmten Seeräubers, lauert. Der türkische Diwan mit den beiden riesigen Kissen davor ist mein Felsenversteck, und der alte Meßgewänderschrank, gebaut in Ulm Anno Domini 1500, mit seinen Intarsien und den geflügelten Engelsköpfen, der seit vierhundert Jahren mit der Familie lebt, ist die Galeere. Ich klettere auf einen
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