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Gute Nacht Jakob

Gute Nacht Jakob

Titel: Gute Nacht Jakob
Autoren: Hans G. Bentz
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Stuhl und nehme ein altes Krummschwert von der Wand. Dann kauere ich mich hinter die Kissenfelsen, bis die Galeere ganz nahe ist. Ihr Deck wimmelt von Bewaffneten. Die Hellebarden und Enterhaken wie ein stachliger Wald über ihnen. Die Geschützluken öffnen sich, quietschend und polternd rollen die Kanonen heraus, die Geschützmeister mit glimmenden Lunten hinter ihnen. Und da, auf der Kommandobrücke — der Rote Falke! Die Worte der Handlung murmele ich halblaut vor mich hin, während ich jetzt mit geschwungenem Säbel vom Felsen an Deck springe, meine tapferen Leute hinter mir.
    Aber der Rote Falke ist auch nicht von Pappe. Schnell ziehe ich einen roten Schal aus der Tasche, den ich aus der Kommode der Mama entlieh, springe zur Wand und hole mir dort eine gewichtige Reiterpistole aus dem Dreißigjährigen Krieg. Jetzt bin ich der Rote Falke und lege auf mein eigenes Ich an. »Puh — puh —«, rufe ich, während ich den Abzug der doppelläufigen Pistole durchreiße, deren Schaft meine kleine Faust kaum umklammern kann. Es nutzt aber nichts, die Sarazenen dringen vor, und schließlich ziehe ich mich zum letzten Kampf in die Kabine zurück. Ich betrete sie, indem ich die große Schiebetür zum benachbarten Arbeitszimmer zur Seite rolle. Dort sitzt Opapa am Fenster und blättert in seiner Briefmarkensammlung. Er raucht eine Zigarre mit langem Aschenkegel und bläst blauen Rauch genüßlich unter seinem kurzen, grauen Schnurrbart hervor.
    Die Vision der Seeschlacht wird dünn und unwirklich wie ein bunter Bilderbogen, der dann plötzlich umklappt und einfach nicht mehr ist. Ich halte die Pistole hinter dem Rücken, stelle mich gegen Opapa und recke die Nasenspitze über das Buch. Gerade hat er die Seite mit der >Sachsen, drei Pfennig rot< aufgeschlagen. Einer seiner größten Schätze, der in Senfs Katalog mit dreihundert Mark steht. Dreißig Goldstücke!
    Jetzt nimmt Opapa den Kneifer ab, steckt ihn in die Westentasche und sieht mich aus seinen blaßblauen Augen an, in denen ganz hinten ein Lächeln glimmt: »Na, was hat’s denn gegeben?«
    »Galeere geentert!« erkläre ich kurz. Vor Opapa geniere ich mich gar nicht, denn er ist Fachmann. Er hat von seinen Eltern nicht nur die Waffensammlung geerbt, sondern auch eine Zinnsoldatensammlung mit Rittern und Indianern und besonders mit Figuren aus den Napoleonischen Kriegen. Früher, als wir noch eine berühmte Familie waren und mit dem Kaiserhof lebten, spielten der alte Moltke und der Kriegsminister Roon oft damit, und Heinrich Heine und Bismarck machten ihre Witze darüber, wenn sie die Großmutter besuchten.
    Mit dem Tode des alten Kaisers und meines Urgroßvaters — die beiden Freunde starben kurz nacheinander — erlosch der Glanz der Familie. Geblieben sind nur die Erinnerung, ein paar alte Waffen und Möbel und die Zinnsoldaten. Jetzt baut Opapa sie zweimal in der Woche auf. Er hat dazu große Holztafeln, die über zwei Stühle gelegt werden. Wenn er sie aufgebaut hat, zum Beispiel Austerlitz — genau nach dem Geschichtsbuch —, dann setzt er sich stundenlang davor und bläst den Zigarrenrauch zwischen die Karrees der Alten Garde, daß es aussieht wie Pulverdampf.
    Er ist überhaupt ungeheuer genau. Seine Schätze hat er im >Italienerschrank<, das ist ein sehr altes Möbel mit zwei Hunden als Intarsien auf der Vorderseite. Innerhalb des Schranks geht es gewaltig ordentlich zu. Die Armeen ruhen in großen Kisten mit vielen Einzelfächern. Dann gibt es ausziehbare Platten, auf denen die Kanonen und Trainwagen und Pontons der Pioniere stehen und auch die Kutsche, in der der österreichische Kaiser sitzt mit der Hand am Federhelm. — In der Mitte liegen die vier dicken Alben der Briefmarkensammlung. Darauf stehen die Samttabletts mit den kleinen Näpfchen, in denen die Goldstücke der Münzsammlung ruhen, während die Jubiläumstaler und die minder wichtigen Exemplare in runden Blechbüchsen gehäuft sind. Ganz unten liegen Opapas andere Sammelobjekte: die Zigarren, die er während des Jahres geschenkt bekommt, und die Bieruntersätze und Teelöffel mit Hotelaufschriften, die er von seinen Dienstreisen mitbringt.
    Über alles führt Opapa Buch. Er hat lange Listen, in denen es von roten und grünen Kreuzen wimmelt. Ob er nun die Kreuzritter oder Wellingtons Generalstab neu anstreicht, ob er eine neue Unterhose aus der Boulekommode nimmt oder gebrauchte zum Waschen gibt oder eine Zigarrenkiste aufbricht, die er vor fünf Jahren zu Weihnachten geschenkt bekam
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