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Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Titel: Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Autoren: Gianrico Carofiglio
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fallen. Und doch tut sie es. Denn während wir auf der einen Seite wohl alle den Eindruck haben, dass dieser Prozess zu keinem Ergebnis geführt hat, bleibt auf der andern Seite die Betroffenheit darüber, dass ein so entsetzliches Verbrechen unbestraft bleibt, dass wir keinen Täter haben. Ein unerträglicher Gedanke, der eine große Gefahr in sich birgt.«
    In diesem Augenblick kehrte Cervellati in den Gerichtssaal zurück. Er setzte sich auf seinen Platz und stützte den Kopf auf die rechte Hand, die er wie eine Art Barriere benützte. Zwischen ihm und mir. Sein Blick war demonstrativ auf einen Punkt hoch oben links im Saal gerichtet. Wo es absolut nichts zu sehen gab.
    Er wollte mir den Rücken zuwenden, was rein praktisch nicht besser möglich war, weil unsere Bänke und Stühle parallel ausgerichtet waren.
    Idiot, dachte ich und fuhr fort.
    »Die Gefahr besteht darin, dass wir versucht sein könnten, diese Betroffenheit abzustreifen, indem wir nicht den, sondern einen Schuldigen finden. Irgendeinen. Einen, der das Pech gehabt hat, in diesen Prozess verwickelt zu werden.
    Ohne – etwas – getan – zu – haben. Lassen Sie es mich noch einmal sagen: Ohne – etwas – getan – zu – haben.
    Der eine oder andere von Ihnen könnte Anstoß daran nehmen, dass ich das so kategorisch behaupte. Das ist völlig in Ordnung. Zweifel sind legitim. Ich bin der Verteidiger und aus vielerlei Gründen überzeugt, dass mein Mandant unschuldig ist. Aber Sie haben natürlich das Recht, diese Überzeugung nicht zu teilen. Sie haben das Recht, ihre höchstpersönlichen Zweifel zu hegen. Sie haben das Recht zu glauben, dass Abdou Thiam schuldig sein könnte, egal, was sein Verteidiger sagt.
    Er könnte schuldig sein. So absurd die Rekonstruktion des Tathergangs durch den Staatsanwalt auch war, es ist Ihr gutes Recht zu glauben, dass der Angeklagte schuldig sein könnte.
    Könnte. Konditional, Möglichkeitsform.
    Urteile soll – und darf – man aber nicht im Konditional schreiben. Urteile schreibt man im Indikativ, in der Wirklichkeitsform, mit der man Gewissheiten ausdrückt. Tatsachen.
    Können Sie das? Können Sie behaupten, dass sich der Zeuge Renna gewiss nicht getäuscht hat? Können Sie behaupten, dass am Ende dieses Prozesses alle Zweifel restlos ausgeräumt sind?
    Wenn Sie das alles behaupten können, dann verurteilen Sie Abdou Thiam.«
    Ich war wieder laut geworden, merkte aber, dass ich das diesmal nicht bewusst getan hatte...
    »Verurteilen Sie ihn zu nichts weniger als zu lebenslänglicher Haft. Wenn Sie behaupten können, dass kein einziger Zweifel besteht, wenn Sie sich Ihrer Sache absolut sicher sind, dann müssen Sie diesen Mann dazu verurteilen, den Rest seines Lebens hinter Gittern zu verbringen. Dann müssen Sie den Mut haben, dies zu tun. Großen Mut.«
    Eine Zeit lang hing dieser Satz in der Luft, bis ich meine Stimme von Neuem hörte. Leise jetzt, bebend.
    »Wenn Sie diese Gewissheit aber nicht haben, dann brauchen Sie noch mehr Mut.
    Mut, Ihre Zweifel nicht in einem oberflächlichen Verfahren zu ersticken, Mut, den Angeklagten freizusprechen – beachtlichen Mut. Ich bin sicher, dass Sie diesen Mut aufbringen werden.
    Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«
    Ich setzte mich und merkte lange nicht, dass ich wirklich fertig war. Aus den Zuschauerbänken hinter mir drang Stimmengemurmel an mein Ohr. Ich saß mit geneigtem Kopf und zusammengepressten Lippen da und starrte auf meine Bank, auf einen Punkt in der Maserung des Holzes links von mir.
    Ich hörte den Vorsitzenden sprechen, und seine Stimme schien mir von weither zu kommen. Er fragte den Staatsanwalt und die Nebenkläger, ob sie etwas erwidern wollten. Beide verneinten.
    Daraufhin fragte er Abdou, wie die Strafprozessordnung es vorsieht, ob er selbst noch etwas anzumerken habe, bevor sich das Gericht zur Beratung zurückzog. Das Gemurmel im Saal verstummte, und es war ein paar Sekunden still. Dann vernahm man die Stimme Abdous, der in das Mikrofon sprach, das man ihm durch die Gitterstäbe seines Käfigs gereicht hatte. Er sprach leise, aber bestimmt.
    »Ich möchte nur Eines sagen. Ich möchte meinem Anwalt danken, weil er glaubt, dass ich unschuldig bin. Ich möchte ihm sagen, dass er gut daran tut, denn es ist wahr.«
    Der Vorsitzende nickte kaum merklich mit dem Kopf und sagte: »Das Gericht zieht sich zurück.«
    Darauf erhob er sich, und die andern Richter taten es ihm fast gleichzeitig nach.
    Auch ich stand mechanisch auf und sah zu, wie
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