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Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Titel: Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Autoren: Gianrico Carofiglio
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entgegenzukommen.
    Ich legte die Hände an die Gitterstäbe, und er grüßte mich mit einem schwachen Lächeln. Dasselbe tat ich.
    »Konntest du mir folgen?«, fragte ich ihn.
    »Ja.«
    »Und?«
    Er antwortete nicht gleich. Wie schon öfter hatte ich den Eindruck, dass er sich konzentrierte, um die richtigen Worte zu finden.
    »Ich habe eine Frage, Avvocato.«
    »Welche?«
    »Warum hast du das alles getan?«
    Wenn er diese Frage nicht gestellt hätte, hätte ich sie mir früher oder später selbst stellen müssen.
    Ich suchte nach einer Antwort, und dabei merkte ich, dass ich keine Lust hatte, durch Gitterstäbe zu sprechen. Dass sie Abdou erlaubten, den Käfig zu verlassen und ein wenig im Gerichtssaal zu plaudern, war allerdings undenkbar. Das wäre gegen jede Regel gewesen.
    Deshalb fragte ich den obersten Schließer, ob ich zu ihm in den Käfig dürfe.
    Er starrte mich an, als habe er nicht richtig gehört, dann sah er seine Männer an, zuckte mit der Schulter wie jemand, der es aufgibt, etwas verstehen zu wollen, und befahl dem Wärter, der die Schlüssel hatte, den Käfig aufzuschließen und mich einzulassen.
    Ich setzte mich neben Abdou auf die Bank und empfand eine absurde Erleichterung, als ich das Schloss der Gittertür wieder einschnappen hörte.
    Ich wollte ihm gerade eine Zigarette anbieten, als er selbst ein Päckchen aus der Tasche zog und darauf bestand, dass ich eine von seinen nahm. Eine rote Diana. Die Marlboro der Häftlinge.
    Ich nahm sie, zündete sie an, und als ich sie zur Hälfte geraucht hatte, sagte ich ihm, dass ich keine Antwort auf seine Frage wisse.
    Irgendeinen guten Grund musste ich wohl haben, aber welchen, konnte ich ihm nicht genau sagen.
    Abdou nickte, als hätte ihn diese Antwort zufrieden gestellt.
    »Ich habe Angst«, sagte er dann.
    »Ich auch.«
    Auf diese Weise begannen wir zu sprechen. Wir sprachen über alles Mögliche und rauchten weiterhin seine Zigaretten. Irgendwann hatten wir Lust, etwas zu trinken, und ich rief mit meinem Handy die Bar an, damit sie uns etwas brachten. Zehn Minuten später kam ein Junge mit einem Tablett und streckte uns zwei Gläser kalten Tee durch die Gitterstäbe. Abdou bezahlte.
    Dann tranken wir unter den verblüfften Blicken der Schließer unseren Tee .
    Gegen acht sagte ich ihm, dass ich mir draußen ein wenig die Beine vertreten wollte.
    Ich hatte keine Lust, nach Hause oder ins Büro zu gehen. Oder gar ins Stadtzentrum, um zwischen Passanten und Geschäften herumzulaufen. Also wanderte ich einfach durch das Viertel ums Gerichtsgebäude, in Richtung Friedhof. Vorbei an Sozialbauten, aus denen Essensdünste drangen, an schäbigen Geschäften, durch Straßen, die ich in den neununddreißig Jahren meines Lebens noch nie gesehen hatte.
    Ich wanderte lange herum, ziellos und ohne an etwas zu denken, und hatte dabei das Gefühl, irgendwo anders zu sein. Die Gegend war hässlich, so hässlich, dass sie eine merkwürdige Faszination auf mich ausübte.
    Es war inzwischen dunkel geworden, und ich war völlig von meinen Gedanken absorbiert, als plötzlich das Handy in meiner Hosentasche zu vibrieren begann.
    Ich zog es heraus und hörte am andern Ende die Stimme des Protokollführers. Er klang aufgeregt.
    Was, er hatte schon einmal angerufen? Tat mir Leid, das musste ich überhört haben. Das Gericht war schon seit zehn Minuten bereit? Oh, dann würde ich sofort kommen. Nur ein paar Minuten.
    Ich schaute mich um und brauchte eine Weile, bis mir klar war, wo ich war. Keineswegs in der Nähe. Ich musste rennen, und das tat ich.
    Als ich zehn Minuten später den Gerichtssaal betrat, klebte mir das schweißnasse Hemd am Rücken. Ich versuchte, durch die Nase statt durch den Mund zu atmen und Haltung zu bewahren.
    Die anderen hatten alle bereits ihre Plätze eingenommen. Der Nebenkläger, der Staatsanwalt, der Gerichtsdiener, die Journalisten und – trotz der späten Stunde – sogar Publikum. Mir fiel auf, dass auch ein paar Afrikaner gekommen waren, die ich während der vorausgegangen Sitzungen nie gesehen hatte.
    Sobald er mich erblickte, verschwand der Protokollführer hinter der Tür des Beratungszimmers, um dem Gericht mitzuteilen, dass ich endlich eingetroffen war.
    Ich zog die Robe über und sah auf die Uhr. Fünf vor zehn.
    Der Protokollführer kehrte an seinen Platz zurück, im nächsten Moment läutete die Glocke, und dann hielt das Gericht Einzug.
    Der Vorsitzende ging rasch an seinen Platz und wirkte wie jemand, der schnell etwas Unangenehmes
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