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Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Titel: Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Ausländer, insbesondere solche afrikanischer Herkunft, und hätte gerne, dass die Polizei sich ihrer annimmt. Herr Renna erkennt den Angeklagten gleich auf zwei Fotos, die ihm vorgelegt werden, nicht wieder und das, obwohl der Angeklagte im Saal anwesend ist. So gut, wie er behauptet, kennt er ihn also nicht, wenigstens ist er mit Sicherheit niemand, dem es leicht fiele, Menschen mit dunkler Hautfarbe auseinander zu halten. Aus seiner Sicht sind das alles Neger, wie er sich bei seiner Vernehmung durch den Verteidiger wortwörtlich ausgedrückt hat.«
    Ich war kurz davor, zu einem entscheidenden Schlag auszuholen, und deshalb machte ich eine winzige Pause. Die Richter sollten wenigstens zwanzig Sekunden Zeit haben, sich zu überlegen, warum ich verstummt war, und mir ihre ganze Aufmerksamkeit schenken, sofern das nach so vielen Stunden Verhandlung noch möglich war. Als ich weitersprach, war meine Stimme noch einmal um ein paar Dezibel lauter. Es musste klar sein, dass wir zum springenden Punkt gekommen waren.
    »Aufgrund der Aussagen dieses Herrn, zweifelhafter Aussagen, von denen wir noch nicht einmal genau wissen, wie sie zustande gekommen sind – nach allem, was wir über die erste Vernehmung Rennas durch die Carabinieri wissen -, verlangt der Staatsanwalt, dass Sie Abdou Thiam für den Rest seines Lebens hinter Gitter schicken.
    Denken Sie bitte daran, dass Sie, um jemanden verurteilen zu können – und sei es auch nur zu einem einzigen Tag Gefängnis -, nicht das Kriterium der Wahrscheinlichkeit anwenden dürfen; einmal angenommen, dass wir hier und in Zusammenhang mit der Zeugenaussage Rennas überhaupt von Wahrscheinlichkeit sprechen können. Nein, meine Damen und Herren Richter, das einzig gültige Kriterium für eine Verurteilung ist die Gewissheit. Gewissheit!
    Und von Gewissheit kann bei der Rekonstruktion eines Falles nur dann gesprochen werden, wenn jede andere Hypothese unglaubwürdig erscheint und daher ausgeschlossen werden kann. Ist das hier der Fall? Ist es beispielsweise unglaubwürdig anzunehmen, dass Renna an jenem Nachmittag nicht Abdou Thiam, sondern jemand anderen gesehen hat, wo für ihn doch alle Neger gleich aussehen? Ist es unglaubwürdig anzunehmen, dass sich dieser Zeuge auf die eine oder andere Weise getäuscht hat? Der Zeuge, der bei dem Foto-Test vor Ihren Augen so kläglich versagt hat. Kann er sich nicht getäuscht haben? Können Sie Ihre Entscheidung und das Leben eines Menschen ruhigen Gewissens von der Aussage eines Mannes abhängig machen, der seine Fehlbarkeit vor unser aller Augen demonstriert hat?«
    Pause. Sechs, acht Sekunden.
    »Und Vorsicht. Auch wenn Sie allem entgegen zu der Ansicht gelangen sollten, dass die Aussage Rennas glaubwürdig ist, so wäre damit noch lange nicht die Schuld des Angeklagten bewiesen.
    Denn die anderen Indizien, die vom Staatsanwalt gegen ihn vorgebracht wurden, sind mehr als fadenscheinig.«
    Ich kommentierte die Aussagen der beiden Senegalesen, das Ergebnis der Hausdurchsuchung und die übrigen Beweiselemente...
    Auch die Telefondaten. Selbst wenn man von Wahrscheinlichkeit sprechen wolle, sagte ich, sei die Rekonstruktion des Staatsanwalts völlig unhaltbar. Ja, geradezu grotesk. Der Staatsanwalt glaubte, der Angeklagte sei in einer Art triebgesteuertem Anfall aus Neapel zurückgekehrt und mit dem irren Vorsatz nach Capitolo gefahren, den kleinen Francesco zu entführen, zu vergewaltigen und zu töten? Dann hätte Thiam verrückt sein müssen. Nur ein Verrückter würde so handeln. Warum hatte man ihn dann aber nicht einer psychiatrischen Beurteilung unterzogen? Wenn es nötig war, ihn als Geisteskranken hinzustellen, dann hätte unbedingt ein Sachverständiger bestellt werden müssen, der seine Geisteskrankheit offiziell bescheinigte. Andernfalls handelte es sich bei dieser Bezichtigung durch den Staatsanwalt lediglich um den Versuch, das Gericht gegen den Angeklagten einzunehmen.«
    Dies alles sagte ich, ohne viele Worte zu verschwenden. Die Richter waren müde, und ich war überzeugt, dass im Moment der Entscheidung vor allem Rennas Zeugenaussage zur Diskussion stehen würde.
    Deshalb kam ich, wie es so schön heißt, zum Schluss. Ein Plädoyer damit abschließen, dass man noch einmal zum Ausgangspunkt zurückkehrt, vermittelt den Eindruck einer runden Sache und stärkt die Argumentation. Finde ich.
    »Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit, meine Damen und Herren Richter. Gewissheit oder Möglichkeit. Die Wahl sollte eigentlich nicht schwer
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