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Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Titel: Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Erinnerungen wurden im Laufe seiner ersten Anhörung ganz einfach neu programmiert, und zwar im Hinblick auf die Theorie, die den Ermittlern vorschwebte, und die nicht objektiv überprüft, sondern schlicht und einfach bestätigt werden sollte. Wie diese Neuprogrammierung seiner Erinnerungen konkret vonstatten ging, werden wir allerdings nie erfahren, denn die Vernehmung dieses Herrn ist nicht auf Tonband festgehalten, sondern lediglich protokolliert worden – wie, haben wir gesehen.
    Möchten Sie wissen, meine Damen und Herren, wie leicht es ist, allein durch gezielte Fragen die Antworten eines Zeugen, ja seine Erinnerung zu beeinflussen? Dann lassen Sie mich kurz von einem anderen, diesmal italienischen Experiment berichten. Drei Gruppen von Psychologiestudenten – also keinen Kindern oder ahnungslosen Versuchspersonen, sondern Psychologiestudenten, die wussten, dass es sich um einen Test handelte – wird ein Video vorgeführt. Es zeigt eine Frau, die mit einem Einkaufswagen aus dem Supermarkt kommt; irgendwann taucht hinter der Frau ein junger Mann auf; er schnappt sich die in dem Wagen liegende Handtasche der Frau und rennt damit weg. Die drei Gruppen von Studenten wurden mit unterschiedlich lautenden Fragen aufgefordert, das Gesehene nachzuerzählen. Die erste Gruppe wurde gefragt: ›Hat der Dieb die Frau angerempelt?‹ Die zweite: ›Wie hat der Angreifer die Frau zur Seite gestoßen?‹ Die Studenten der dritten Gruppe wurden ganz einfach gebeten, zu erzählen, was sie gesehen hatten. Ich brauche wohl nicht extra zu betonen, dass die Frau in dem Film weder angerempelt noch gestoßen wurde.
    Bestimmt ahnen Sie bereits, wie dieser Versuch ausging. Von den Studenten der dritten Gruppe – die ganz einfach erzählen sollte, was sie gesehen hatte – sprachen nur zehn Prozent oder wenig mehr von einem Geschubse oder sonst irgendeinem physischen Kontakt zwischen dem Angreifer und seinem Opfer. Von den Studenten der ersten Gruppe waren immerhin schon zwanzig Prozent der Meinung, der junge Mann habe die Frau angerempelt. Und von den Studenten der zweiten Gruppe – denen die am stärksten manipulierte Frage gestellt worden war – berichteten fast siebzig Prozent von der vermeintlichen Rempelei. Nicht nur das, sondern sie schmückten ihre Schilderung auch noch mit allen möglichen Einzelheiten aus.
    Muss dem noch mehr hinzugefügt werden? Müssen wir weitere Worte verschwenden, um zu erklären, wie sehr sich die Art, wie man jemanden vernimmt, auf seine Antworten, ja auf seine Erinnerungen auswirkt? Ich glaube nicht.
    Ich denke, wir haben alle begriffen, wie überaus wichtig es ist, zu wissen, welche Fragen – und in welcher Abfolge, mit welchem Rhythmus, in welchem Ton – einem Zeugen während seiner ersten und damit wichtigsten Vernehmung gestellt wurden.
    Im vorliegenden Fall müssen wir auf diese überaus wichtige Information verzichten, weil im Protokoll der Carabinieri, anstatt der Frage einfach nur ›gibt zur Antwort‹ steht.
    Auf die Frage antwortend. Was wurde der Zeuge gefragt? Wie wurde er es gefragt? Wir wissen es nicht.«
    Ich hob ein wenig die Stimme. Das gehörte eigentlich nicht zu meinen Gepflogenheiten, aber die Richter begannen müde zu werden, und ich wollte zum Höhepunkt meines Plädoyers kommen. Ich musste sie wach halten.
    »Wenn wir aber nicht wissen, was und wie der Zeuge gefragt wurde, können wir auch nicht sagen, ob er unvoreingenommen und ehrlich geantwortet hat oder ob seine Antwort irgendwie beeinflusst, vielleicht sogar manipuliert worden ist. Und wir werden das nie mehr sagen können, weil wir von dieser Vernehmung, von dieser ersten Vernehmung des Zeugen Renna, nichts haben als dieses Protokoll in Form einer knappen Zusammenfassung. Wir können nur Vermutungen anstellen. Dabei dürfen wir aber eines nicht außer Acht lassen, ein Faktum, das sich hier vor unseren Augen, während der Verhandlung, abgespielt hat. Und dieses Faktum ist das Kreuzverhör Rennas, in dessen Verlauf wir wichtige Dinge erfahren haben. Dinge, anhand derer wir uns ein Bild von der Glaubwürdigkeit dieses Zeugen machen können. Das bedeutet nicht, dass wir damit sichere Aussage darüber machen können, ob der Zeuge bewusst gelogen oder vielleicht nur seine subjektive Wahrheit erzählt hat. Es bedeutet aber, einschätzen zu können, ob und bis zu welchem Grad seine Erzählung mit dem tatsächlichen Hergang der Dinge übereinstimmt.
    Lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen. Herr Renna mag keine
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