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Gruene Armee Fraktion

Gruene Armee Fraktion

Titel: Gruene Armee Fraktion
Autoren: Wolfgang Metzner
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strahlender Diamant? Hatte er nicht viel zu oft diesen verlebten Blick in seinen Augen? Schwarze Löcher im Gedächtnis, wenn ihm Namen nicht einfielen, die ihm so vertraut sein mussten wie sein abgegriffenes Adressbuch? Dass er immer mehr silbergraue Haare an den Schläfen bekam, störte ihn nicht. Aber woher kamen nachts die Schmerzen im Rücken, während Fetzen von Geschichten, an denen er gerade arbeitete, in Endlosschleifen durch seine Träume geisterten, ohne dass er die Stopp-Taste fand?
    Manchmal erschrak er, wenn er morgens im Bad einen vorsichtigen Blick in den Spiegel warf. An die senkrechten Falten, die sich neben den Mundwinkeln in das schmale Gesicht gruben, hatte er sich gewöhnt. Ebenso an die dunklen Kerben über den wild wuchernden Augenbrauen. Damit konnte er genauso gut leben wie mit den eingefallenen Wangen, auf denen er sich manchmal einen Fünf-Tage-Bart sprießen ließ. Es störte ihn auch nicht, dass halblange Strähnen über die Ohren hingen, wenn er seinen dunkelblonden Schopf mit nassen Fingern aus der Stirn strich. Aber was war mit den Augen dieses Schlafwandlers, der ihm da gegenüberstand?
    Weit weg wirkten sie morgens oft, wässrig und matt. Mussten erst mühsam ankommen in dem neuen Tag. Wenn er halb nackt und mit hängenden Lidern zur Küchennische schlurfte, um heißes Wasser aufzusetzen, konnte es passieren, dass er über einen der Kelims stolperte, die er auf den knarzenden Holzdielen ausgelegt hatte. Außer den bunt gemusterten Nomadenteppichen gab es eigentlich nicht viel, was in seinem Loft hätte im Weg stehen können. In dem riesigen Raum in der Speicherstadt verloren sich neben einem Futonbett bloß ein Stehpult, ein durchgesessenes Ledersofa und eine Musikanlage mit edlen Boxen, State of the Art, zwischen den rauen, weiß getünchten Wänden. Sonst wirkte sein Exil so kahl, als hätte ein Mönch darin Zuflucht gefunden.
    Vor fünf Jahren war er in den Backsteinbau am St. Annenufer gezogen. Eigentlich hätte er dort gar nicht wohnen dürfen, weil der Bereich als Gewerbegebiet ausgewiesen war. Die »Kreativen« tummelten sich dort, Werbeagenturen, Modedesigner, Film-Producer, alle möglichen Internetfirmen und auch mal ein Schiffsmakler. Aber nachdem seine Frau mit einem italienischen Galeristen abgehauen war, hatte ihm ein Freund den Raum unter der Hand überlassen. Der brauchte ihn nicht mehr, weil er mit seinem Start-up-Unternehmen nach kurzem Höhenflug abgestürzt war.
    Er hatte nur wenige Dinge aus seinem früheren Leben in die neue, spartanische Bleibe mitgenommen: neben seiner verstaubten Rockgitarre und den geliebten Hirtenteppichen mit den mythischen Ornamenten vor allem Masken. Farbige, verrückt angestrichene Schmuckstücke mit grotesken Gesichtszügen von Tempeltänzen auf Bali und Karnevalsumzügen in Bolivien. Kultgegenstände von Hindu-Feiern in Indien und Indianerritualen in Brasilien. Schon auf seinen ersten Fernreisen hatte er den Fimmel entwickelt, solche Preziosen zu sammeln. Jetzt hingen die geheimnisvollen Botschafter aus anderen Welten an rissigen Holzbalken und starrten ihn vorwurfsvoll an, wenn er morgens noch im Halbschlaf zum Herd tappte, um sich mit zittrigen Händen einen extrastarken Orange-Pekoe-Tee zu brühen. Oder zwei. Oder auch drei.
    Manchmal brauchte er über eine Stunde und die tägliche Dosis Liegestütze, bis er merkte, dass wieder Blut durch sein Hirn floss und Leben in seinen Körper strömte. Dann wollte er gar nicht wahrhaben, dass er schon vierundfünfzig war, erste Altersflecken auf der Haut, die Raster der Routine im Kopf und auf der Seele ein bisschen viel Blues. Der Typ Jungreporter, der heute so viel galt, online-präsent und cyber-schnell, war er sowieso nie gewesen. Eher ein Grübler, der hinter die Masken schauen und herausfinden wollte, welche Rolle Menschen auf der großen Bühne wirklich spielten. Diesen Drang hatte er in all den Jahren nicht verloren. Und in manchen Momenten kam er sich jetzt noch merkwürdig alterslos vor, fast wie ein Kind, hellwach und voll von der kostbarsten Eigenschaft, die ein Journalist haben konnte: Neugier.
    Das Ortsschild von Tespe holte ihn aus seinen Gedanken. Das Haus, das er suchte, lag nicht weit von der Elbe, ein ganzes Stück von der Straße zurückgesetzt. Mondrian fuhr ein paar Meter daran vorbei und parkte am Rand des Dorfs.
    Während er auf die rote Kate zuging, sah er, wie sich hinter einem der Sprossenfenster etwas bewegte. Leicht vergilbte Gardinen wurden zur Seite gezogen,
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