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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien
Autoren: Nina Bußmann
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verlässliche Aussage ließ sich daraus zusammensetzen, nicht ein einziger vollständiger Satz. Es half nichts, dass der Bruder in Rufen und schließlich in Schreien verfiel, es verschlimmerte sich dadurch nur. Schramm musste, weil der andere immer lauter wurde, den Hörer in einem Abstand zu seinem Ohr halten und so noch mehr von dem Gesagten versäumen, doch anders wären die Nebengeräusche nicht zu ertragen gewesen, dieses anhaltende Knacken und Brausen.
    Ein Bruder bleibt ein Bruder, wird gesagt, ein Bruder gehört zu den ersten Menschen, die man kennt im Leben, doch konnte in ihrem Fall nicht von einer besonderen Nähe die Rede sein. Von einem naturgegebenen, durch nichts zu trennenden Band. Wo schon das Wechseln eines Blickes, eine Geste genügt, eine gemeinsame Erinnerung hervorzurufen. Etwas Derartiges hatte sich zwischen Schramm und seinem Bruder niemals eingestellt. Schon als Kinder hatten sie kaum etwas miteinander anzufangen gewusst, und wenn sie doch einmal ganze Nachmittage zusammen verbrachten, ins Spiel vertieft, dann in Ermangelung anderer und passenderer Kameraden. Das kommt vor, sagte Schramm. Regelrecht verteidigen müssen hatte er sich, wo immer das Thema aufgekommen war.
    Manchmal brauchen wir uns nur ansehen, meine Schwester und ich, hatte die Referendarin zu ihm gesagt und ihr Haar am Hinterkopf zusammengezurrt, dass es ihr Gesicht straffte, die Brauen in die Höhe zog. Nur ansehen, sagte sie, und wir brechen in Lachen aus. An den Kopierern stand sie, ihr Gesicht gerötet von der Hitze der Apparate. In ihrem Rücken die Kollegen hasteten dem Freitagnachmittag entgegen. Schramm im Mantel, den Koffer in der Hand, stand und hörte der Referendarin zu, die ausgewählte Seiten aus einem schweren Bildatlas kopierte. Zerstreut blätterte sie in dem Buch, presste die Falzwölbung mit der Hand flach, bevor sie den Band auf das Originalglas legte, die Abdeckung zuklappte und fest niedergedrückt hielt. Schön war das natürlich nicht. Grün blitzte der Taststrahl aus dem Spalt unter der Klappe hervor, jagte quer an ihrem Becken entlang, indes sie mit der freien Hand nach dem auf dem Tisch abgelegten Apfel griff und in kleinen Bissen davon aß. Mit den Fingerrücken tupfte sie den Saft aus den Mundwinkeln, blätterte erneut in dem Buch … An all diese Einzelheiten erinnerte er sich, nicht einmal sagen konnte er aber, wie er sich in diese Unterhaltung hatte einfangen lassen, nicht, wie das Gespräch gerade hierhin geraten war: Er jedenfalls hatte nicht damit angefangen.
    Als Kinder unzertrennlich seien sie gewesen, Viktor und er, eine Affenliebe, wurde gesagt. So mochte eine Mutter die Sache sehen und ahnte nicht, wie gut der Tiervergleich gewählt war. Kinder werden die Gemeinschaft immer vorziehen, rein aus Instinkt: Von einer Wahl kann nicht die Rede sein, wie viel weniger noch eignet sich das Wort Liebe. Natürlich gab es Fotografien, die ihre Eintracht belegten. Noch immer hing eine von ihnen gerahmt über dem Elternbett. Zwei blonde Buben mit Bürstenschnitt, der Arm des einen um den Hals des anderen geschlungen. Oft genug war der Bruder irrig für den Älteren gehalten worden. In Wirklichkeit war er der Nachgeborene, und es musste leider gesagt werden, dass er in vielen seiner Verhaltensweisen bis heute nicht ganz erwachsen geworden war.
    Bereits vor dem Schulabschluss hatte Viktor das Elternhaus und die Stadt verlassen nach einem anscheinend nicht wieder aufzuhebenden Streit. Für eine gewisse Zeit schrieb er lange Briefe, voller Vorwürfe, von wechselnden Absenderadressen. Von frühester Kindheit an sei er von Eltern und Schule zugrunde gerichtet worden. Nicht im Körperlichen, umso mehr im Geistigen habe man ihn misshandelt und in der Folge zerstört. Von Vater, Mutter, Bruder, von Lehrern und von anderen Kindern, von dem ganzen in seinen Briefen kompakt zu einer angeredeten Einheit zusammengestampften Städtchen, von jedem auf seine Weise zerstört. Dass er nicht nur die Familie und das Städtchen, sondern auch Freunde und Frauen gegen sich aufgebracht hatte, dass er, wo er hinging, früher oder später mit den Menschen aneinandergeriet: Es sei nicht seine Schuld. Als Begründung zog er den Hund heran, die plötzliche Hundekrankheit, und dass der Vater das Tier, anstatt Medikamente zu kaufen, erschossen hatte. Auf dieses frühe Erlebnis führte Viktor vieles zurück. Noch heute kam er darauf zu sprechen. Mit dem Hund losgefahren, mit der Leine zurückgekehrt, erzählte der Bruder und dass er
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