Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien
Autoren: Nina Bußmann
Vom Netzwerk:
daran schon gelernt habe, wie schnell die Liebe allen Wert verliert. Wie er vom Kleinsten ins ganz Große kam! Da schlug Schramms Widerwille in Bewunderung um, wenn Viktor in langen verwickelten Argumenten nachwies, warum für jegliches Zerwürfnis ausschließlich die anderen Verantwortung trugen, weil ihr Bild von der Welt das falsche war.
    Vor allen anderen beschuldigte er den Vater, wie sollte es anders sein, den jähzornigen und in seinem Jähzorn ungerechten, die Menschen in seinem Umfeld mit seinen Launen tyrannisierenden Vater! Natürlich zu Recht. Schramm hätte selbst ein Liedchen singen können. Doch dieser Umstand wurde in den von der Mutter gesammelten, zu Bündeln geschnürten, in Kisten aufbewahrten Bruderbriefen nicht einmal berührt, diese Briefe kreisten ausschließlich um das dem Jüngeren zugefügte Leid. Sie trafen in wachsenden Abständen ein und brachen schließlich ganz ab. Über Jahre von Viktor kein Zeichen. Erst seit kurzem kam er regelmäßig, ja häufig, stets ohne große Absprache zu Besuch: Ich darf die Heimat nicht verlieren, so sagte er. Wahrscheinlicher, dass er eine ganz andere Absicht verfolgte. Doch Schramm konnte es ihm nie abschlagen. Zwingend führte der Weg des Bruders, wenn er vom Urlaub in die Stadt fuhr, hier vorbei, Platz war im Haus hinreichend vorhanden.
    Er hatte alles vorbereitet. Das Bett für Gäste bezogen, einen Wein aus dem Keller geholt und Bier, Knabbereien eingekauft zum Wein. Der Bruder war, was man einen Genussmenschen nennt, und fehlen sollte es ihm an nichts. Das große Bett im Mutterschlafzimmer hatte Schramm bezogen, gefaltete Handtücher bereitgelegt für Viktor und eine möglicherweise mit ihm gereiste Frau. Eine neue Bekanntschaft, vielleicht die eine, die schon einmal mit dabei gewesen, oder jene andere, mit der er wieder zusammengekommen war nach scheinbar endgültiger Trennung. Möglich, dass er anstelle der beiden die Tochter brachte, die die Hälfte der Zeit bei ihm, die andere bei ihrer Mutter wohnte. Schramm hatte es aufgegeben, diese Geschichten verfolgen zu wollen. Man wurde davon nur wirr. Noch jenseits der Grenze war der Bruder gewesen bei seinem Anruf. Das Sprechen wird dann teuer für beide Seiten. Gut möglich, dass er schon zur Mittagsstunde ohne weitere Ankündigung vor der Tür stünde, wenn Schramm sich gerade, und sei es für zehn Minuten, in den Keller des Hauses zurückgezogen hätte, auf der Suche nach Kühlung, eventuell einem Imbiss. Er würde die Ankunft Viktors, selbst wenn dieser in den Garten hineinlief und rief, wahrscheinlich nicht hören. Vor verschlossenen Türen, auf der Straße stünde sein Bruder und legte den Kopf in den Nacken. An der Fassade des Hauses empor blickte und zeigte er, äugte und zeigte in die Fenster hinein, auf zugezogene Gardinen, im Küchenfenster ein Herz aus Stroh.
    Das ist das Haus, würde er sagen, zu der Frau: das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Schon konnte Schramm ihn reden hören, ihn stehen sehen, ihn und wieder jene Frau vom vorigen Mal. Eine kleine Frau mit weit auseinandergestellten Füßen unterm Saum ihres bauschigen Zigeunerrocks. Das Haar fiel ihr in Fransen in die Stirn. Und er dachte wieder, was er sich oft sagen musste, dass er bei keiner von Viktors Frauen verstehen, bei keiner sich wenigstens vorstellen konnte, was Viktor an ihr fand.
    Allein die Art, dachte Schramm, wie er eine Hand auf ihren Rücken legte, die Stimme senkte, bis er nicht mehr redete, nur noch raunte, gegen den Mittagsschlaf hinter gekippten Fenstern an. Den Arm ausstreckte, die ansteigende Straße empor deutete, wo es zum Sommerbad ging. Vorbei an den längs des Hangs gebauten Doppelhäusern, gekalkter Rauputz in thujeneingefriedeten Grundstücken. Hier sind alle Straßen nach Vögeln benannt, erklärte er ihr, alle Vögel sind schon da, sagte Viktor und deutete auf die an den Dachgauben zur Abschreckung lästiger Tauben angebrachten Rabenvogelattrappen. Und selbst aus seinen harmlosesten Andeutungen und Hinweisen hörte man sein Urteil heraus, selbst, wenn er nur beschrieb und zeigte, dachte Schramm, hörte man ihn darunter immer sagen, dass es hier nicht zum Aushalten sei.
    Wiegenden Gangs liefe Viktor in den Vorgarten hinein, von der Kante der Grasböschung blickte er in die Senke hinab. Die Handkante an der Stirn zum Schutz vor dem senkrecht fallenden Mittagslicht, stünde er am Böschungsrand, ein Westernheld vor der Schlucht. Lass dich nicht stören, würde er, an Stelle einer Begrüßung, sagen. Tu,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher