Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Größenwahn

Größenwahn

Titel: Größenwahn
Autoren: Karl Bleibtreu
Vom Netzwerk:
wo Parliamentstreet ihren Strom von Wagen und Fußgängern auf den Trafalgar Square ergießt.
    Auch hier im vornehmen Westend fehlte es ja nicht an wirbelndem Drang. Wo Piccadilly mündet, bei Oxford Circus konnte Krastinik bewundern, wie der weise Policemen nur mit der Beredsamkeit seiner Blicke und Handbewegungen unauflösliche Wagenknäuel entwirrt. Aber rückwärts schlendernd, empfing den Neuling die vornehme Ruhe von Pall Mall. An der Terrasse, die zum St. James'-Park hinabführt, sah er Müssiggänger vom feinsten »Ton« gähnend und rauchend lehnen, unschlüssig, ob sie die Clubs mit ihrer Gegenwart beglücken oder im Criterion-Theater schneidige Klatschworte mit gleichgestimmten Seelen austauschen sollten. Einige junge Fähnriche von der Garde in ihren enganliegenden Rothjacken, die Mützen aufs Ohr gestülpt wie studentische Cereviskappen, die Reitgerte unter den Arm gesteckt, Brust heraus, Kopf zurück, wandeln mit wehenden Schnurrbärten als triumphirende Ladies-Killer gen Regentstreet.
    Wie die aristokratische Schönheit sich erst beim Kerzenlicht in voller Toilette zeigt, so strahlt London erst in der Nacht im Diadem seiner Gasflammen. Das ist die Zeit des Westend, wie der Mittag die Zeit der City. Und je trüber und rauher die Nacht, um so heller leuchten, um so wohnlicher winken Häuser und Läden. Die City wimmelt von Clerks und Ladendienern, die soeben ihre methodische Arbeit mit dem Glockenschlag geschlossen haben.
    Vor den Theatern bummeln Leute, die zum ersten Mal diese Tempel besuchen und mit höchster Aengstlichkeit sich ein Billet sichern wollen. Die Dining-Parlours sind zum Brechen voll, lustig knistert das Feuer im Kamin und der göttliche Duft solider Dinners verbreitet sich durch ganz Regentstreet und Piccadilly, zum Aerger müder und hungriger Wanderer. Ganz Soho und Seven Dials lehnt an den Hausthüren, unter stillem Genuß sogenannter Havannahs. Die Leute von Coventgarden vor der Italienischen Oper setzen jedem ein Textbuch auf die Brust. In den Vorstädten geht man nachbaren, »Biere« und »Kuchen« wandeln durch Southwark. Die Policemen rücken in geschlossener Colonne, in ihre Nachtmäntel und ahnungsvolles Schweigen gehüllt, nach der City ab, um die leeren Shops zu bewachen. In Little Russel Street wird der erste betrunkene Kutscher aus seiner Inn hinausgeworfen. Die Kellner im Café Monico wissen nicht, wie sie diese Menschenmasse bedienen sollen; in den kleineren Cafés sitzt ein Kreis von Gentlemen comfortabel vorm Feuer und vierten Glase Sherry bei zugezogenen Fenstervorhängen. Cromwell-, Brompton-, Glosterroad scheinen durch Wagenmassen abgesperrt, bei Oxford Circus herrscht babylonische Sprachverwirrung und kein rother Omnibusconducteur versteht die Injurien seines blauen Rivalen. Ein schwüler Dunst von Parfüm, Cigarren und Champagner verbreitet sich über Haymarket: die nächtliche Lustbörse, mit bestimmtem Cours und nach Nationalitäten geordnet, wie die wirkliche Börse in Lombard-Street.
    »Das Licht brennt blau, ist's nicht um Mitternacht?« citirte Krastinik vor sich hin. Ja, die Stunde der Geister und Gauner brach an, und ohne dem gedruckten Sirenengesange eines »wandelnden Mannes« zu folgen, der noch so spät die Annonce auf dem Rücken spazieren trug, daß in Cremorne Gardens zum unwiderruflich letzten Mal Fandango in türkischen Hosen getanzt werde, suchte der müde Fremdling sein Lager auf.
    Schon früh am andern Morgen gürtete er seine Lenden, zu wandeln von Dan bis Bersaba. Piccadilly, das gestern Abend den koketten Putz seiner glänzenden Läden entfaltet hatte, athmete jetzt Frische und Lebendigkeit, wie eine junge Landpomeranze in ihrer ersten Season. Auf frisch begossenen Trottoirs zog eine Karawane von Landmädchen nach Conventgarden-Markt hinauf, Früchte und Blumen und Gemüse bringend. Der feuchte Duft des Green- und Hyde-Park reinigte die Luft, die noch nicht vom Straßenverkehr durchseucht. Milchhändler begannen ihr eintöniges Geschrei, Fleischerkarren rasselten gen Tottenham Court Road, Fischverkäufer marschirten von der Themseseite her heran. Die unvermeidlichen Stiefelputzer-Boys in rother Jacke postirten sich bereits an den Straßenecken, um jeden Vorübergehenden mit der Bürste und flehendem Penny-Blick anzufallen. Einige Straßenjungen gaben ihre Anerkennung der ausgestellten Eßwaaren so unzweideutig zu erkennen, wo Auster- und Pastetenhändler ein Straßenfrühstück feilboten, daß man ehrenrührige Strafen an ihnen vollziehen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher