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Grimpow Das Geheimnis der Weisen

Grimpow Das Geheimnis der Weisen

Titel: Grimpow Das Geheimnis der Weisen
Autoren: Rafael Abalos
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lagen. Die Mönche benutzten nicht einmal Decken, um sich vor der Kälte zu schützen, und die kleinen Fenster in der Außenwand des Schlafsaals blieben die ganze Nacht offen, um die eisige Bergluft hereinzulassen.
    Bruder Brasco blieb betend in der Kirche zurück, während Durlib und Grimpow den leisen Schritten des Abtes folgten. Sie traten in den Innenhof hinaus und stellten fest, dass es nicht nur aufgehört hatte zu schneien. Auch der Nebel hatte sich völlig gelichtet, und am Himmel zwischen den Wolken klafften große Lücken, in denen die Sterne funkelten.
    Durch eine Tür in einer Ecke des Innenhofs kehrten sie ins Hauptgebäude zurück. Ein kurzer, schmaler Durchlass mit einer schwachen Öllampe an der Decke wies ihnen den Weg zum Kreuzgang, der von mehreren Fackeln hell erleuchtet war. Mit einem Mal tauchte vor ihren Augen ein Wald aus Bögen und Säulen von unermesslicher Schönheit auf.
    Grimpow blieb stehen, um das Kapitell einer der kleinen Säulen im Kreuzgang zu betrachten, in das eine menschliche, von Löwen umringte Gestalt gehauen war. Darunter stand ein Text, den er ohne Weiteres verstand, obwohl er in Lateinisch abgefasst war:
    DANIEL CUM LEONIBUS
    Erstaunt über die Neugier des Jungen trat der Abt neben ihn und fragte: »Weißt du, was dieses Bildnis besagt?«
    »Es ist eine Darstellung des Propheten Daniel, den seine Feinde wegen seiner Treue zu Gott in eine Löwengrube geworfen haben«, erklärte Grimpow, ohne zu stocken.
    Durlib starrte ihn genauso verblüfft an wie der Abt.
    »Weißt du denn auch, ob die Löwen den Propheten Daniel gefressen haben?«, hakte der Abt in väterlichem Ton nach und musterte das Gesicht des Jungen eindringlich.
    »Nein, das haben sie nicht getan«, antwortete Grimpow. »Ein von Gott gesandter Engel hat den Löwen das Maul verschlossen, sodass sie ihm nichts antun konnten.«
    »Wer hat dir denn diese Geschichte erzählt?«, forschte der Abt ein wenig verwirrt nach.
    Grimpow war klar, dass er dem Mönch nichts vom Einfluss des seltsamen Steins erzählen durfte. Wenn er indes Durlib anführte, würde der Abt sicher seine niedere Meinung über diesen ändern und sich später beim Tausch der Silbermünzen gegen die Pferde aus seinem Stall großzügig zeigen.
    »Durlib hat mir in den Bergen viele Geschichten von Gott erzählt«, erklärte er daher arglos, auch wenn er genau wusste, dass es gelogen war.
    Sein Freund errötete leicht. Doch genau wie jedes Mal, wenn er sich mit Hilfe seiner Gewitztheit aus der Schlinge ziehen musste, sagte er, ohne zu zögern: »Nun ja, ich habe dem Jungen nur die Geschichten nahegebracht, die Bruder Brasco mir hin und wieder in der Klosterküche erzählt hat.«
    Der Abt betrachtete ihn argwöhnisch. »Zumindest freut es mich zu erfahren, dass in der Hütte der Geächteten und Diebe, in der ihr überwintert, der Name Gottes nicht ungehört verhallt ist«, sagte er und setzte den Weg zu seinen Gemächern fort.
    Sie gingen durch den gewölbten Säulengang, am Kapitelsaal vorbei, und betraten schließlich einen rechteckigen, kalten Raum, dessen Wände einen durchdringenden Geruch nach Moder und verbranntem Wachs verströmten.
    Der Abt entzündete die Kerzen eines Kandelabers auf einem Tisch, auf dem eine Bibel, ein Stundenbuch sowie einige Pergamentrollen lagen. Sodann bedeutete er ihnen, auf zwei Stühlen Platz zu nehmen, die einem Sessel mit hoher, geschnitzter Lehne gegenüberstanden. Auf diesem ließ er sich selbst mit der Feierlichkeit eines Patriarchen nieder.
    »Ihr wollt also gleich morgen früh aufbrechen«, stellte der Abt fest.
    »Ganz recht«, bestätigte Durlib. »Mir geht schon seit einiger Zeit durch den Kopf, dass die Berghütte nicht der richtige Ort für Grimpow ist. Ich will nicht, dass er sein ganzes Leben von einem Dorf ins nächste flüchtet, so wie ich es getan habe, seit ich denken kann.«
    »Ihr wollt euch also mitten im Winter nach Straßburg aufmachen?«
    »Straßburg ist eine reiche, blühende Stadt. Dort werden wir gewiss ehrbar leben können, das sagte ich Euch ja bereits. Ich kenne einen Weg, auf dem wir ohne jede Gefahr über die Berge kommen.«
    Während Durlib und der Abt sich unterhielten, tat Grimpow zerstreut und betrachtete die Einbände der zugeklappten Handschriften auf dem Tisch. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er alle Titel ohne Schwierigkeiten lesen konnte.
    »Du weißt, wenn der Junge wollte, könnte er als Novize hier im Kloster bleiben, so wie es schon viele junge Männer adliger und
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