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Grimm 1: Der eisige Hauch (German Edition)

Grimm 1: Der eisige Hauch (German Edition)

Titel: Grimm 1: Der eisige Hauch (German Edition)
Autoren: John Shirley
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und gegen Mittag beschloss Napoleon Bonaparte, dass das Schlachtfeld fest genug sei. Er befahl der
grande batterie
der Kanonen, auf die Reihen der britischen Soldaten unter dem Duke von Wellington zu feuern, dicht gefolgt von einem Frontalangriff in einer engen, unaufhaltsamen Kolonne. Kessler sah voller Panik mit an, wie eine Armee der Republik vom Kamm im Süden auf die Ebene preschte und Wellingtons Position direkt angriff.
    Wellingtons eng beieinanderstehende, mit Musketen bewaffnete Soldaten mähten Napoleons Truppen nieder. Die Männer fielen scharenweise, tot oder sterbend, in Stücke gerissen von Kettenschüssen oder Musketenkugeln; Kavalleriepferde schrien, als sie von Schrapnellen durchbohrt wurden. Über dem Schlachtfeld stieg Rauch auf, der den Gestank des Schießpulvers mit sich trug, gefolgt vom untrügerischen Geruch nach Blut, sehr viel Blut.
    Kessler sah die gefallenen französischen Soldaten durch sein kleines Messingteleskop, wie sie übereinander lagen, einige wenige zuckend und stöhnend, die blauen Mäntel mit roten Flecken bedeckt. Es kam ihm in den Sinn, dass jeder dieser Gefallenen geboren worden war, ein Leben voller Hoffnungen und Pläne gehabt hatte, nur um hier zu enden und seinen letzten Atemzug auf diesem schlammigen Schlachtfeld zu tun …
    Da er in Napoleons Nähe stand, ließ Kessler das Teleskop sinken und sah sich zu dem Kaiser um, der erneut die Münzen von Zakynthos in der Hand hielt und gegeneinander klimpern ließ wie ein Spieler, der mit Spielchips spielte, während er mit finsterer Miene auf das Schlachtfeld starrte. Er hielt die Münzen stets in Reichweite, seit ihn Denswoz an jenem Tag in Lyons dazu gedrängt hatte. Doch Kessler glaubte, dass sie eine zunehmend verheerende Wirkung auf Napoleon ausübten. Der große Mann erweckte den Anschein, nach und nach zu schrumpfen, kränklich zu werden, und er litt unter Nierenbeschwerden und Unpässlichkeit. Nur selten sah man ihn noch zu Pferde, und er schien das Schlachtfeld nicht mehr klar erkennen zu können.
    Während Kessler ihn beobachtete, schien Napoleon seinen Blick zu spüren, da er die Münzen wieder in den Mantel steckte. Aber er behielt sie immer in seiner Nähe.
    Die Münzen haben sich gegen ihn gewandt, so wie es in der Legende heißt
, dachte Kessler. Dennoch sorgten sie weiterhin dafür, dass ihm seine Soldaten treu ergeben waren. Wenn Napoleon die Münzen weiterhin in der Hand behielt, konnte er diese Schlacht womöglich noch gewinnen. Und falls ihm das glückte, dann würden nur noch mehr Kriege und Chaos über Europa hereinbrechen.
    Napoleon
. Kessler dachte voller Kummer an Napoleons zweifellos zivilisierten Einfluss auf die Welt. Die Träume von einem rationalen, erleuchteten Reich, die der große Mann hatte, schienen zuweilen der beste Kurs zu sein, den die westliche Zivilisation einschlagen konnte. Aber Kesslers Loyalität gehörte Deutschland und Erzherzog Karl. Und Napoleon hatte einen Großteil Deutschlands unterjocht.
    Dennoch betrachtete Kessler Napoleon als Freund.
    In vielerlei Hinsicht glaubte er, seinem Freund auf lange Sicht einen Gefallen zu tun, wenn er ihm diese Münzen wegnahm. Sobald Napoleon die Münzen von Zakynthos verloren hatte, würde er auch den Mut verlieren. Er war von ihnen abhängig geworden. Ohne sie würde er vermutlich nicht siegreich aus der Schlacht hervorgehen, woran Kesslers Arbeitgeber sehr gelegen war, und möglicherweise konnte er Napoleon vor dem Wahnsinn und dem körperlichen Verfall bewahren, die der Kontakt mit den Münzen unvermeidlich nach sich zog.
    Napoleon zog seinen Mantel aus, als es am Nachmittag wärmer wurde. Kessler wartete auf seine Chance … und als Denswoz losgegangen war, um Wasser zu holen, trat Kessler zu Napoleon, als wolle er mit ihm auf die Karten sehen. Mit der linken Hand griff Kessler in die Tasche des Mantels, der über dem Stuhl hing, und holte die Münzen rasch heraus. Als er sich streckte, sah er Denswoz, der einen Krug Wasser in der Hand hielt und die Stirn runzelte, bereits auf ihn zukommen. So wie sich Napoleon über die Karten beugte, versperrte Napoleon Denswoz die Sicht auf Kessler, daher konnte dieser den Diebstahl nicht gesehen haben. Zumindest nicht direkt. Aber etwas hatte sein Misstrauen geweckt.
    Kessler wandte rasch den Blick ab und sagte, er wolle dafür sorgen, dass sein Pferd auch etwas Wasser bekäme. Dann ging er zum Rand des Lagers, drehte sich noch einmal zu Napoleon um – der letzte Blick, den er ihm je zuwarf – und
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