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Grappa 06 - Grappa und der Wolf

Grappa 06 - Grappa und der Wolf

Titel: Grappa 06 - Grappa und der Wolf
Autoren: Gabriella Wollenhaupt
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Nummer war fast unleserlich – Feuchtigkeit hatte die Tinte verschwimmen lassen – aber mit einiger Mühe konnte ich sie entziffern. Bierstadt – nicht zu fassen!
    Erst jetzt hatte ich die Bilder und Ereignisse des vergangenen Abends wieder voll im Gedächtnis. Die Puderdose hatte der Frau in dem roten Kostüm gehört, die vor meinen Augen aus dem dritten Stock des grauen Hauses gegenüber der Tapa-Bar gefallen war. In dieser unheimlichen, verlassenen Straße mit den knallroten Plastikstühlen. Der Mann im dunkelgrünen Wagen fiel mir wieder ein, der später genauso verschwunden war wie die tote Frau.
    Ich dachte an das Gesicht des Barmannes, wie er mir eine Flasche Vino tinto aus Valdepenas und köstliche Tapas auf den Tisch stellte. Fast war mir, als hörte ich das Männergegröle und die brünstigen Flamencoklänge. Ich starrte auf die Puderdose. Sie war Realität.
    Was tun? Die Nummer einfach anzurufen, das schien mir absurd. Aber warum eigentlich nicht? Neben dem Telefon lag eine auf Pappe gedruckte Anweisung zur Benutzung des Zimmertelefons. Como utilizar el servicio telefonico desde su Hotel. No problema!
    Aus meinem Reiseführer notierte ich die Auslandsvorwahl für Deutschland, ließ bei der Bierstädter Vorwahl die Null weg und wählte den Anschluss.
    »Roja!«, sagte eine Frauenstimme.
    »Carlotta?«, fragte ich.
    »Carmen! Endlich! Warum rufst du erst jetzt an? Ich habe schon gestern mit deinem Anruf gerechnet, die Sache ist doch jetzt schon in der Entscheidung.«
    Es war die sympathische, warme Stimme einer Frau in mittlerem Alter, so schätzte ich. Sie wusste nicht, dass sie mit einer Fremden sprach, der Carmens Puderdose und die eigene Telefonnummer nur zufällig in die Hände gefallen waren. Ein Strom von spanischen und deutschen Worten sprudelte aus der Ohrmuschel, als stünde Carlotta unter Druck oder hätte Eile, so viel wie möglich in diesem Telefongespräch unterzubringen.
    »Die Sache läuft gut«, erzählte sie weiter, »ich hoffe, dass du etwas rausbekommen hast. Der dunkle Typ muss in Spanien sein, ich habe ihn hier nicht mehr gesehen. Die Sache ist jetzt absolut heiß. Du musst sofort zurückkommen, hörst du? Ich erwarte dich morgen. Ich habe erfahren, dass sie die Sachertorte in Moskau bestellt haben.« Beim letzten Satz senkte sie ihre Stimme.
    »Sachertorte? Moskau?«, entfuhr es mir. Sofort merkte ich, dass das ziemlich blöd gewesen war, denn Carlotta begriff endlich.
    »Mit wem spreche ich denn?« Es klang entsetzt. »Carmen? Bist du es nicht? O Gott! Wer sind Sie?«
    »Maria Grappa«, antwortete ich, »ich wollte nur …«
    »Mit wem telefonieren Sie, Carlotta?«, hörte ich eine männliche Stimme im Hintergrund fragen. Sie war deutlich und scharf.
    »Was wollen Sie hier?«, schrie die Frau. »Gehen Sie!«
    »Sie haben sich in Dinge eingemischt, die Sie nichts angehen«, sagte der Mann. Ich konnte seine Stimme jetzt noch deutlicher hören, er musste direkt neben der Frau stehen.
    »Kommen Sie, Carlotta«, sprach er, »wir werden die Sache in Ruhe besprechen. Geben Sie jetzt erst mal den Hörer her!«
    Ich hörte Geräusche, dann wieder die Stimme: »Hallo, wer ist dort? Sagen Sie sofort Ihren Namen!«
    Ich hatte meine Geistesgegenwart zurückgewonnen, obwohl ich noch immer sehr erregt war. »Du kannst mich mal!«, rief ich wütend. Da wurde es plötzlich sehr still. Der Hörer war aufgelegt worden.
    Jetzt hatte ich also einen Mord am Hals, eine Leiche verschwinden sehen und ein mysteriöses Telefongespräch mit einer Frau namens Carlotta geführt, die etwas von einer Sachertorte erzählt hatte, die ausgerechnet aus Moskau kommen sollte.
    Ich kenne mich in den Feinheiten der Confiserie nicht besonders gut aus, aber ich weiß, dass Sachertorten eine Wiener Spezialität sind, dass in ihnen viel Schokolade und Butter verarbeitet wird und sie deshalb im Magen liegen wie ein Stein. Von den vielen Kalorien ganz zu schweigen. Nicht zuletzt deshalb hatte ich seit Jahren an Sachertorten noch nicht mal gedacht.
    Mich schauderte. Ich hatte noch immer die Stimme des unbekannten Mannes im Ohr, der mein Gespräch mit Carlotta unterbrochen hatte. Sie hatte die wohlige Wärme von Trockeneis.
    In meiner Hand lag die Puderdose. Ich untersuchte sie näher. Sie war schon älter, ursprünglich aus Silber, später hatte sie jemand vergoldet. Das Material war dünn, an manchen Stellen schon ein wenig verbeult. Der Puder war sehr leicht, ein bisschen feucht und von zarter, schillernder Fleischfarbe. Ein
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