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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün
Autoren: Tana French
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und sie regieren es wild und gebieterisch wie junge Tiere. Sie klettern auf seine Bäume und spielen in seinen Winkeln Verstecken, den ganzen endlosen Tag lang und die ganze Nacht in ihren Träumen.
    Sie stürmen in Legenden hinein, in Gutenachtgeschichten und Albträume, die Eltern wohl niemals hören werden. Die schmalen, vergessenen Pfade hinunter, die ihr niemals allein finden würdet, sie toben um die zerfallenen Steinmauern herum und ziehen Rufe und Schnürsenkel hinter sich her wie Kometenschweife. Und wer ist das da, der am Flussufer wartet, die Hände in den Weidenzweigen, dessen Lachen schwankend von den hohen Zweigen fällt, wem gehört das Gesicht im Unterholz, aus Licht und Laubschatten, das ihr aus den Augenwinkeln seht und das einen Wimpernschlag später wieder verschwunden ist?
    Diese Kinder werden nicht heranwachsen, nicht in diesem Sommer und in keinem anderen. Dieser August wird sie nicht auffordern, versteckte Reserven an Stärke und Mut zu mobilisieren, um sich der komplizierten Erwachsenenwelt zu stellen und danach trauriger und weiser und in lebenslanger Freundschaft verbunden zu sein. Dieser Sommer hat andere Pläne für sie.

1
    EINS DÜRFEN SIE NICHT VERGESSEN: Ich bin Ermittler. Unser Verhältnis zur Wahrheit ist grundsätzlicher Art, aber rissig, verwirrend gebrochen wie gesplittertes Glas. Wahrheit ist das Kernstück unseres Berufs, das Endspiel bei jedem Zug, den wir machen, und wir verfolgen sie mit Strategien, die sorgsam aus Lügen und Verschleierung und jeder Spielart von Betrug zusammengesetzt sind. Die Wahrheit ist die begehrenswerteste Frau der Welt, und wir sind ihre eifersüchtigen Liebhaber, die reflexartig jedem anderen auch nur einen flüchtigen Blick auf sie verweigern. Wir betrügen sie gewohnheitsmäßig, verstricken uns stunden-, ja tagelang in Lügen, und dann drehen wir uns zu ihr um und halten ihr das ultimative Möbiusband des Liebhabers hin: Ich hab das nur gemacht, weil ich dich so sehr liebe.
    Ich habe einen Hang zur bildhaften Sprache, vor allem der beliebigen, gefälligen Art. Lassen Sie sich von mir nicht einreden, wir wären ein Haufen edler Ritter, die im edlen Wams hinter Lady Wahrheit auf ihrem Schimmel hergaloppieren. Was wir tun ist grob, derb und schmutzig. Eine junge Frau liefert ihrem Freund ein Alibi, wenn wir ihn verdächtigen, eine Bank überfallen und den Kassierer niedergestochen zu haben. Zuerst flirte ich mit ihr, sage, dass ich mir gut vorstellen kann, warum er gern zu Hause bleibt, wo er doch sie hat. Sie ist wasserstoffblond und schmuddelig, hat die ausdruckslosen, dumpfen Gesichtszüge von Generationen schlechter Ernährung, und insgeheim denke ich, wenn ich ihr Freund wäre, würde ich sie liebend gern gegen einen haarigen Zellengenossen namens Razor eintauschen. Dann erzähle ich ihr, dass wir markierte Scheine aus der Kasse in seiner edlen Trainingshose gefunden haben und er behauptet, sie wäre an dem Abend ausgegangen und hätte ihm die Scheine gegeben, als sie zurückkam.
    Ich bin dabei so überzeugend, lege eine so zarte Mischung aus Unbehagen und Mitgefühl ob des Verrats ihres Freundes an den Tag, dass ihr Glaube an vier gemeinsame Jahre schließlich in sich zusammenfällt wie eine Sandburg, und während ihr Freund mit meinem Partner im Nebenzimmer sitzt und immer nur sagt: »Leck mich, ich war mit Jackie zu Hause«, erzählt sie mir heulend und rotzend alles (angefangen von dem Zeitpunkt, als er das Haus verließ, bis hin zu seinen sexuellen Defiziten). Dann klopfe ich ihr sachte auf die Schulter, reiche ihr ein Kleenex und eine Tasse Tee – und lasse sie die Aussage unterschreiben.
    Das ist mein Job, und niemand entscheidet sich dafür, wenn er nicht eine gewisse natürliche Neigung zu den damit verbundenen Anforderungen hat – oder falls doch, hält er nicht lange durch. Was ich Ihnen sagen will, ehe ich mit meiner Geschichte anfange, ist zweierlei: Ich sehne mich nach der Wahrheit. Und ich lüge.

    Folgendes las ich in der Akte, einen Tag, nachdem ich zum Detective befördert worden war. Ich werde wieder und wieder auf diese Geschichte zurückkommen, und das auf vielerlei Weise. Traurig, aber nicht zu ändern: Es ist die einzige Geschichte auf der Welt, die nur ich erzählen kann.
    Am Nachmittag des 14. August 1984 spielten in dem kleinen Ort Knocknaree bei Dublin drei zwölfjährige Kinder – Germaine (Jamie) Elinor Rowan, Adam Robert Ryan und Peter Joseph Savage – auf der Straße, wo sie wohnten. Es war ein heißer,
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