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Gottesgericht

Gottesgericht

Titel: Gottesgericht
Autoren: Patrick Dunne
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in mondlosen Nächten oft hier und betrachteten den spektakulären Anblick der Sterne am klaren Himmel über ihnen. Heute Abend waren jedoch weder Mond noch Sterne sichtbar – die Wolke, die den Ort tagsüber eingehüllt hatte, war lediglich höher gestiegen.
    »Signor Bua ist Witwer, und Shpresa war sein einziges überlebendes Kind«, fuhr Giuseppe fort. »Seine beiden Söhne kamen als Teenager bei einem Autounfall ums Leben. Vor etwa drei Jahren dann heiratete Shpresa einen Mann aus Sant’Elia – gegen den ausdrücklichen Wunsch ihres Vaters. Sie starb Ende letzten Jahres an einem Hirnaneurysma, ohne Kinder gehabt zu haben. Ihr Ehemann ließ sie hier auf dem Friedhof begraben, obwohl Enzo ihn anflehte, sie im Familiengrab der Buas in der Krypta der Kirche von Collalba beisetzen zu lassen. Das brachte das Fass zum Überlaufen, was Enzo Bua anging.«
    »Aber warum …« Jane verlor kurz den Faden. Der dritte Grappa des Abends machte sich bemerkbar.
    »Woher weißt du das alles, Giuseppe?«, fragte Lucia. »Über Enzo Bua, meine ich.«
    »Nachdem ich Vittorio und die Polizei verständigt hatte, rief ich Mitri Kamarda an. Er hat mir alles erzählt.«
    Lucia nickte und wandte sich dann an Jane. »Pfarrer Kamarda ist der Gemeindegeistliche von Collalba«, erklärte sie. »Und stammt selbst von den Arbëresh ab«, fügte sie an.
    Jane wusste nicht, warum das von Belang war, aber sie fasste es als Bemerkung darüber auf, wie wichtig es für eine Gemeinde mit solch ausgeprägter religiöser Kultur war, ihre eigenen Priester zu haben. Bevor sie es auf dem Flug nach Neapel in einem Reiseführer gelesen hatte, hatte sie nicht gewusst, dass es in diesem Teil Italiens albanische Gemeinden gab, von denen einige fünfhundert Jahre zurückreichten.
    Am vergangenen Sonntag hatte Giuseppe vorgeschlagen, sie könnten die Messe in Collalba besuchen, und Jane versprochen, dies würde ihr eine Ahnung von der Kultur der Arbëresh vermitteln. Nachdem sie in das sonnenbeschienene Tal hinuntergefahren waren und auf der anderen Seite über eine Serpentinenstraße wieder hinauf, waren sie in ein schmuckes Dorf gekommen, das um eine kleine Kirche herumgruppiert war. Die Kirche war von außen unscheinbar, aber innen unerwartet hell und luftig, mit vergoldeten Ikonen, die von gelb getünchten Wänden und Säulen leuchteten. Giuseppe hatte erklärt, dass die Arbëresh in gewisser Weise wie griechisch-orthodoxe Christen waren, aber dem lateinischen Ritus folgten. Nichtsdestoweniger fand es Jane schwer, der Liturgie zu folgen – was vielleicht damit zu tun hatte, dass sie selbst Protestantin war.
    Wie in der orthodoxen Tradition war der Altar von einer Ikonostase verborgen, einem Wandschirm aus Ikonen, hinter dem der Priester von Zeit zu Zeit für verschiedene Lesungen und Gesänge hervorkam. Und doch war es erkennbar eine römisch-katholische Messe. Die Gemeinde, die hauptsächlich aus Frauen mittleren Alters aufwärts in traditionellen roten Röcken, weißen Halstüchern und bestickten weißen Blusen bestand, sang dazwischen Kirchenlieder in einem beinahe nahöstlichen Stil, der keine Ähnlichkeit mit den griechisch oder russisch-orthodoxen Chorälen hatte, die Jane kannte. Das Heftchen für die Messe war in Griechisch, Italienisch und Arbëresh gedruckt – der alten Form des Albanischen, die Enzo Bua auf dem Friedhof benutzt hatte, wie Jane inzwischen wusste.
    »Jedenfalls«, nahm Giuseppe seinen Gedankengang wieder auf, »versetz dich mal in Buas Lage. Er hat keinen überlebenden Sohn, und seine Tochter ist kinderlos gestorben. Um das Maß vollzumachen, gestattet man ihm nicht, sie in Collalba zu beerdigen. Vittorio – Dr. Carlucci – glaubt, das hat ihn überschnappen lassen.« Er sah Jane an. »Der Umstand, dass er bereit war, ihre Gebeine zu rauben, bevor sie trocken waren, zeigt seinen Geisteszustand.«
    »Allerdings war er gerissen genug, die Gelegenheit zu ergreifen, die ihm der Nebel bot«, sagte Lucia.
    Der Zustand der Gebeine der toten Frau kam Jane ziemlich nebensächlich vor. Sie schauderte innerlich, wenn sie an die Szene auf dem Friedhof dachte – der Anblick der toten Frau und, ja, auch der Verwesungsgeruch in der feuchten Luft, wie sie sich jetzt eingestehen konnte. Es war zwei Stunden her, seit sie völlig aufgelöst zum Haus zurückgekehrt war und von ihrem Erlebnis berichtet hatte. Während Lucia ihr ein Glas Grappa aufnötigte, hatte Giuseppe einige Anrufe gemacht, ehe er selbst zum Friedhof gefahren war. Dort traf er
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