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Gottesgericht

Gottesgericht

Titel: Gottesgericht
Autoren: Patrick Dunne
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zunehmenden Dämmerung die nebelverhangene Straße entlangging, fragte sich Jane, warum sie sich so für den Friedhof begeisterte. Wie bei Begräbnisstätten in diesem Teil der Welt üblich, bestand er aus mehreren hausartigen Gebilden, in die Reihen von Nischengräbern eingelassen waren, sogenannten loculi . Das Ganze wirkte wie ein Wohnblock mit fünf Stockwerken aus Loculi auf allen Seiten einschließlich der Giebelseite. Jedes Grab war mit einer quadratischen schwarzen Marmorplatte verkleidet, die Name, Daten und ein Foto des Grabinsassen trug. Vor jeder dieser Platten stand auf einem kleinen Sims eine Vase mit Blumen – frisch, welk oder verdorrt – und daneben ein elektrisches Andachtslicht.
    Die Pflege und Aufmerksamkeit, mit denen die Gräber bedacht wurden, zeugte von einem Ort, an dem die Vorfahren weiter Teil der Gemeinschaft waren. Ihre Körper mochten verfallen, aber ihr Andenken wurde bewahrt, solange noch jemand lebte, der sich an sie erinnerte. War es das, was Jane anzog?
    Sie fand die Fotos allerdings ein wenig unheimlich, speziell die der älteren Leute. Auf den meisten Bildern sahen sie krank und gebrechlich aus, in manchen Fällen ähnelten sie praktisch Leichen. Es erschien ihr unfair, wenn man sich an jemanden, der lange gelebt hatte, nur als alten Menschen erinnerte. Es gab ihr einen Stich bei dem Gedanken, dass ihren verstorbenen Mann Ben dieses Schicksal nicht treffen würde. Aber der Augenblick ging vorüber – es schien mit den Monaten immer schneller zu gehen –, dann lächelte sie, als sie sich vorstellte, wie er neben ihr ging, den Arm um sie legte und etwas sagte wie: »Jung sterben hat auch seine Vorzüge, weißt du.«
    Der Friedhof lag fast einen Kilometer vom Ort entfernt, auf einer Anhöhe links der Straße. Ein aus Ästen geflochtener Zaun auf einer Seite und eine Reihe dunkler Zypressen auf der anderen flankierten die Zufahrt zum Tor. Sie hatte sie zur Hälfte zurückgelegt, als die Giebelseite eines der Gebäude aus dem Nebel auftauchte. Unter dem Teerdach des Grabgebäudes waren alle Loculi elektrisch beleuchtet – ein schleierartiger, heller Ring um jedes Votivlicht. Erst jetzt bemerkte Jane einen roten Lieferwagen unter den Zypressen, der mit dem Heck zum Eingang geparkt war. Sie warf einen Blick in den Wagen, als sie ihn passierte, aber niemand saß darin. Dann sah sie, dass die Hecktüren offen standen. Sie blieb einen Moment stehen und lauschte, da sie nicht weitergehen wollte, ehe sie sich überzeugt hatte, dass sich niemand hier draußen herumtrieb. Aber alles, was sie hörte, waren Wassertropfen, die von den Zypressen auf das Dach des Fahrzeugs fielen. Hier war niemand. Der Wagen gehörte wohl dem Friedhofsverwalter. Vielleicht musste man die elektrische Beleuchtung von Hand einschalten.
    Wie um ihre Vermutung zu bestätigen, stand das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs offen. Sie ging hinein, und im selben Moment wurde die Stille von einer Reihe hallender Schläge durchbrochen, gefolgt vom Geräusch einstürzenden Mauerwerks.
    Bei ihrem vorhergehenden Besuch hatte sie einen kürzlich errichteten Block mit Reihen noch offener Loculi bemerkt. Wenn also genügend Platz verfügbar war, warum sollte jemand ein verschlossenes Grab aufbrechen? Dann kam ihr der Gedanke, dass die Friedhofsarbeiter vielleicht aus irgendeinem Grund eine Leiche exhumierten oder verlegten. Sie hatte eine Anzahl größerer Gruften in einem der Gebäude gesehen, die mit Ossario Famiglia beschriftet waren, gefolgt vom Namen der Familie. Vermutlich sammelten sie die Knochen in manchen Fällen also nach einer bestimmten Zeit wieder ein und bestatteten sie neu in einer Gemeinschaftsgruft.
    Eine weitere Folge schwerer Schläge hallte in den Durchgängen zwischen den Gebäuden. Jane blieb stehen und überlegte unter dem Vorwand, ihre Kamera auszupacken, was sie nun tun sollte. Sie konnte nicht sagen, woher die Abbruchgeräusche kamen oder wie weit entfernt das Ganze von ihrem Standort war. Aber sie hatte kein Verlangen, es näher zu untersuchen. Ein paar Aufnahmen von der nächstgelegenen Giebelseite, dann würde sie den Friedhof verlassen. Sie richtete die Kamera auf die Wand aus Loculi und suchte einige für Einzelaufnahmen heraus, aber sie war zu nahe dran, um ein Gesamtbild der Wand mit den durch den Nebel leuchtenden Lampen zu erhalten. Deshalb ging sie zurück und nach rechts, wodurch die Längsseite des Gebäudes ins Blickfeld kam. Direkt um die Ecke sah sie einen Pickel und einen kurzstieligen
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