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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter
Autoren: Friedrich Ani
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Eigentlich nicht schlecht, dachte er. Er wollte gleich hingehen und alte Sachen wegwerfen, damit er mehr Platz hatte. Dann blickte er noch einmal über den Fluss. In der diesigen Ferne verschwand das Schiff auf blaugrauem Wasser. Das Licht wirkte künstlich, und Rico fand, die Szene sah aus wie der Schluss eines Filmes. Er wollte auf den Nachspann und die Namen der Schauspieler warten, er wollte unbedingt wissen, wer seinen Vater gespielt hatte. Da hörte er ein Klingeln und Klopfen, und das Klopfen wurde lauter, und es klopfte von allen Seiten.

37
    S chlafverzerrte Augenblicke lang fragte er sich, warum seine Mutter nicht endlich die Tür öffnete. Dann begriff er, dass er sich in einer fremden Küche befand. Er nahm den Geruch des nestartig zusammengelegten Schals wahr, nach Wolle und Parfüm. Er hob den Kopf und glaubte eine Stimme zu hören. Kam die noch aus seinem Traum? Er erinnerte sich an seinen Vater und dass dieser rote Haare gehabt hatte. Deutlich sah er das alte Segelschiff vor sich, einen Zweimaster oder Dreimaster. Es wirkte wie aus einem Museum und sein Vater nicht wie sein Vater, obwohl es niemand anderes sein konnte. Hatten sie miteinander gesprochen?
    Wieder wurde gegen die Wohnungstür geschlagen. Diesmal erschrak Rico. Er packte Julikas Schal, ging leise in den Flur und horchte in der leeren Wohnung auf Julikas Schritte. Im Treppenhaus sagte jemand mit dumpfer Stimme: »Mach auf, Rico!«
    Er begriff, dass Julika nicht da war. Auf Zehenspitzen schlich er von Zimmer zu Zimmer…
    »Sonst brechen wir die Tür auf! Wir haben was mit dir zu besprechen!«
    … Keines der Zimmer wirkte auf Rico, als würde jemand darin wohnen. Sogar in jenem, in dem Sarin schlief, standen außer dem Messingbett nur ein grau gestrichener Holzschrank, vier Obstkisten voller Bücher und CDs und in der Ecke neben dem Fenster eine stachelige Palme. Dieses Zimmer lag der Wohnungstür am nächsten. Rico starrte das mickrige Schloss an.
    »Ich bins, Juri!«, hörte er die Stimme von draußen. »Ich weiß, dass deine Freundin nicht da ist, also lass mich rein, und wir reden!«
    Rico dachte nach.
    Die Stimme sagte: »Hast du gedacht, du kannst einfach abhauen? Erst bringst du Steffen um, und dann haust du ab? Rico. Ri-co!«
    Er fragte sich, woher Juri die Adresse hatte. Nicht einmal seiner Mutter hatte er sie verraten. Er knetete den Schal in den Händen. Ungestraft geht niemand weg, hallte es in ihm, ungestraft geht niemand weg. »Lüge«, sagte er. Er war hier und er würde sich nicht bestrafen lassen. Julika hatte Recht, die Vergangenheit war vorbei, er hatte sie abgestreift wie eine zerschlissene Uniform. Er salutierte nicht mehr.
    Hier würde er bleiben, bis sein Kind ein eigenes Leben führte. Er würde nicht weglaufen wie sein Vater. Er war nicht sein Vater. Er war nicht seine Mutter. Er war Rico. Er würde sich einen neuen Familiennamen zulegen, vielleicht den seiner zukünftigen Frau Julika, und niemand würde ihn deswegen bestrafen. Er hauste nicht mehr in der Kinderzeit wie Steffen und Juri und die anderen aus der Gruppe, die nicht damit fertig wurden, wenn jemand eine eigene Zeit begann. Wie Ale, aus der eine selbstständige Sekretärin in einem großen Büro hätte werden können. Juri wollte sie zwingen klein zu bleiben, ein Mädchen, er hatte sie umgebracht, wenn auch nicht mit eigenen Händen. Sie hatte solche Angst auf dem Schiff gehabt. An der Tür hörte Rico ein schnarrendes Geräusch. Juri hatte einen Draht in das Schloss gesteckt. Rico wollte sich nicht im Klo einsperren. Die Zeit des Feigseins war vorbei. Julika… Jetzt fiel ihm ein, warum sie nicht hier war. Er freute sich aufs Essen. Dann dachte er, dass sein Hunger noch nicht groß genug war, um mit Julika feierlich zu essen. Er hörte eine zweite Stimme an der Tür. Das sah Juri ähnlich, er traute sich nicht allein von zu Hause weg. So wie ich, dachte Rico.
    Und dann hatte er eine Idee.
    Und diese Idee sprang wie ein übermütiger Funke durch seinen Kopf. Und je wilder der Funke sprang, desto aufgeregter wurde Rico, so wie früher, kurz vor dem entscheidenden Moment. Was er jetzt noch brauchte, war eine Kleinigkeit. Er blickte den langen, dämmrigen Flur entlang. Er rief sich jedes Zimmer in Erinnerung, in dem er gerade gewesen war, verglich in seiner Vorstellung jede Wand, jede Decke miteinander, schaute sogar nach oben, damit ihm das Erinnern leichter fiel. Dann betrachtete er seine Hände. Beinah hätte er das Nächstliegende übersehen! Er
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