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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter
Autoren: Friedrich Ani
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schnellte nach oben.
    »Bitte hören Sie jetzt auf!«
    »Ja.«
    »Wann sind Sie zurückgekommen? Gestern?«
    »Ja.«
    »Sie sehen schrecklich aus, Herr Süden.«
    Er ließ die Arme sinken, erschöpft und frierend und leer, als hätte ein erbarmungsloser Gott seine Eingeweide geholt und ihn am Leben gelassen, eine Hülle voll Finsternis.
    »Herr Süden?«
    Er hörte sie nicht mehr. Er drehte den Schlüssel zweimal im Schloss um, schleppte sich ins gelbe Zimmer zurück und blieb eine Weile aufrecht stehen. Er wankte und rang nach Luft und roch den süßen, schweren Duft und…
    »Versprich mir eines, Jule…«
    »Ja?«
    »Komm nicht mehr zurück!«
    »Von uns erfährt niemand was.«
    »Du schaffst es, Jule…«
    »Das hab ich alles euch zu verdanken.«
    »Wink dem Meer von mir!«
    »Von mir auch!«
    … sank auf die Knie, beugte sich vor und legte sich flach auf den Boden, Gesicht nach unten, die Augen geschlossen, die Arme an den Körper gedrückt, die Hände wie Schalen an den von Stoppeln rauen Wangen, die Beine gestreckt, die Füße über Kreuz. Bis zum Morgengrauen lag er so da, ein implodierender Mann, vierundvierzig Jahre alt, ledig, Hauptkommissar, Besoldungsgruppe A11.

2
    » S ie kann nicht bleiben«, sagte Marlen Keel, »sie ist ein Kind«
    »Sie ist achtzehn«, sagte Rico Keel.
    »Seit wann?«
    »Seit gestern.«
    Seine Mutter sagte: »Sie ist ein Kind.«
    Von unterwegs hatte Marlen Keel gegrilltes Hähnchen und Kartoffelsalat mitgebracht. Gewöhnlich machte sie keine Mittagspause. Seit die neuen Computer installiert waren, katalogisierte sie in jeder freien Minute die Adressen der Bibliotheksbenutzer, zum Teil alphabetisch, zum Teil nach Schulen geordnet, wobei sie die Altersstufen trennte und mit Hinweisen auf das Ausleihverhalten versah. Mittags war eine gute Zeit dafür, außerdem hatte sie nie Hunger.
    »Kann ich deinen Salat haben?«, fragte Rico. Sie hob die Gabel, und er zog den Teller weg. Gelegentlich warf Marlen Keel einen Blick in den Flur zur geschlossenen Tür gegenüber. Aus Platzgründen hatten sie die Küchentür nach dem Einzug ausgehängt.
    Wegen des Mädchens, das sich in Ricos Zimmer eingeschlossen hatte, saß Marlen Keel hier, den Kopf voller Dinge, die sie dringend erledigen musste, und wusste keinen Rat. Natürlich konnte das Mädchen nicht bleiben, schon deshalb nicht, weil sie eine Ausreißerin war und vermutlich von der Polizei gesucht wurde. Endlich wieder die Polizei im Haus! War erstaunlich lange nicht mehr vorgekommen! Marlen Keel dachte daran, dass es eine Zeit gab, in der fast täglich ein Streifenbeamter auftauchte und in Ricos Vergangenheit kramte, oft stundenlang, jedes Mal ohne Ergebnis.
    »Wenn ich heute Abend nach Hause komm, möchte ich, dass sie weg ist.«
    »Sie geht aber nicht«, sagte Rico. Er hatte jeden einzelnen Knochen abgenagt, den Kartoffelsalat vollständig aufgegessen und seinen Teller und den seiner Mutter mit drei Scheiben Weißbrot abgewischt, jetzt stellte er die Teller aufeinander, warf die Hühnerknochen in den Mülleimer und sah sich um, als suche er etwas.
    »Hast du noch Hunger?«, fragte seine Mutter.
    »Nein«, log er.
    »Hast du nicht gefrühstückt?«
    »Doch.«
    »Setz dich, Rico!«
    Er setzte sich. Seine Frisur sah aus wie nach einer Orkanböe, der Kragen seines blauen Jeanshemdes war schmutzig. Er ahnte, was seine Mutter dachte. Wahrscheinlich glaubte sie, er habe etwas damit zu tun, dass Julika gestern Nachmittag plötzlich vor der Tür gestanden und ihn umarmt hatte. Er hatte nicht mehr an sie gedacht, höchstens ein wenig, im Halbschlaf nach einem anstrengenden Tag in der Lagerhalle. Damals beim Abschied hatte sie ihm einen Brief zugesteckt, drei Seiten lang, eng beschrieben, und er hatte versprochen zu antworten. Doch er hatte nicht geantwortet und er hatte seine Gründe dafür, die sie nichts angingen. Überhaupt brauchte sie nichts von ihm zu wissen. Sie kannten sich genau vier Tage, hatten sich zufällig getroffen, sie hatte ihm ein Bier ausgegeben, und dann lief ein Lied in der Musikbox, das sie mochte. Und sie fing an zu tanzen und nahm seine Hand und wollte, dass er mittanzte. Die anderen haben gegrinst, Juri und Steffen vor allem, und das ist ihm dann zu blöde, also macht er ein paar Schritte, kein Mensch hat vorher je in dem Lokal getanzt, und irgendwer klatscht im Rhythmus, und das Mädchen, von dem er nicht mehr weiß, wie es heißt, klatscht tatsächlich mit und dreht sich im Kreis und lacht ihn an, lacht dauernd bloß in
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