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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter
Autoren: Friedrich Ani
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waren Rico und Julika in Sicherheit.

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    E r öffnete die Augen. Den Gedanken, was passiert wäre, wenn die Frau im Treppenhaus nicht aufgetaucht wäre, fand er komisch. Vermutlich hätte er wie immer das Spiel weitergespielt und sich irgendwann befreit, und dann hätten sie reden können. Und er hätte so getan, als würde er zuhören. Wahrscheinlicher aber war, dass die beiden sowieso getürmt wären, weil der Typ vor Angst geschrien hatte, bei dem hatte der Trick endlich mal wieder gewirkt. Auch Julika war schockiert gewesen, und das tat ihm heute Leid, und er nahm sich vor, sich noch einmal bei ihr zu entschuldigen und ihr zu versprechen, es nie wieder zu tun. Die Vergangenheit war aus.
    Er hatte Hunger. Jeden Moment würde Julika mit dem Essen kommen. Mit dem linken Fuß tastete er nach dem umgekippten Stuhl, sein Schuh berührte ihn schon. Das war großartig gewesen, wie der Typ erschrocken war und geschrien hatte. Gern hätte Rico sein Gesicht gesehen.
    Er röchelte. Mit einem Schal hatte er das Spiel noch nie gespielt, immer nur mit einem Seil, da wusste er genau, wie es reagierte, wie er den Knoten setzen musste. Aber Julikas Schal eignete sich ebenso gut.
    Beim zweiten Versuch schaffte er es, den Stuhl aufzustellen. Jetzt brauchte er ihn nur noch näher heranzuziehen. Sein Magen knurrte zweistimmig.
    Der Stuhl wackelte. Rico konnte nicht nach unten sehen, er durfte den Kopf nicht bewegen, das war wesentlich bei dem Trick. Die Beine des Stuhls waren nicht gleich lang. Kein Problem. Dann dachte er an das Kind, dessen Vater er sein würde. Ihm würde er nicht erlauben, solche Spiele zu spielen. Seine Mutter hatte es ihm auch nicht erlaubt, und er hatte es trotzdem getan, und sie hatte sich nicht weiter darum gekümmert, genau wie sein abwesender Vater. Er, Rico, würde nicht abwesend sein, er würde sich kümmern. Er würde keine sinnlosen Fragen stellen und sich für alles interessieren, was sein Kind betraf, egal ob es ein Junge oder ein Mädchen war, auch wenn er sich, ohne zu wissen, warum, schwer vorstellen konnte, der Vater eines Mädchens zu sein. Alles, was er wollte, war nicht wegzulaufen, wenn Probleme auftauchten.
    Vielleicht würde er eines Tages sogar erzählen, was damals wirklich in dem brennenden Haus passiert war, vielleicht, später, an einem anderen Ort, wenn er alt war und mit Julika den fünfzigsten Hochzeitstag feierte.
    Er hatte den Stuhl mit den Füßen herangezogen und stellte sich darauf und kratzte sich in den Haaren. Als er den Arm senkte, kippte der Stuhl mit den ungleichen Beinen um, und Rico erdrosselte sich.
    In einem Loch in der Wand hockte als einzige Zeugin eine Maus, die später dort verhungerte.

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    A uf der Karl-Marx-Allee, kurz vor dem Strausberger Platz, drängte Süden mit seinem Laguna den Mercedes von der Straße, was er zuvor zweimal vergeblich versucht hatte. Er verfluchte die Situation, in der er war, und hatte keine Geduld mehr. Juri verriss das Lenkrad, das Auto streifte einen Baum, schleuderte und krachte gegen einen LKW, der aus einer Seitenstraße kam. Süden sprang aus dem Auto, rannte zum Mercedes, packte Juri an der Schulter, zerrte ihn ins Freie und warf ihn zu Boden. Plinky blieb vorsichtshalber sitzen. Die Sirene eines Streifenwagens ertönte.
    Juri lag auf dem Asphalt. »Sie sind ja ein richtiger Actionheld«, sagte er.
    Eine halbe Stunde lang musste Süden seinen Kollegen Fragen beantworten, bevor sie ihn gehen ließen.

40
    A ls sie den Schlüssel ins Schloss steckte, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte abzusperren. Dann bemerkte sie einen fremden Geruch in der Wohnung und stellte die Plastiktüte mit den Lebensmitteln und der Vita-Cola-Flasche auf den Boden. Sie dachte nicht mehr daran, die Wohnungstür zu schließen.
    Ein merkwürdiger Gedanke beschäftigte sie: Sie hätte Rico nicht hungrig zurücklassen sollen. Sie hätte ihm wenigstens eine Scheibe Schwarzbrot mit Margarine bestreichen müssen. Daran musste sie bei jedem Schritt denken: Sie hätte ihn nicht hungrig zurücklassen dürfen. Dann sah sie ihn hängen.
    Obwohl sie ahnte, dass ihre Stimme keinen Zweck haben würde, sagte sie: »Rico?«
    Und ein zweites Mal: »Rico?«
    Sie ging zu ihm. Unter ihm auf dem Holzboden war eine kleine Pfütze, die nicht gut roch. Zaghaft berührte Julika sein Bein.
    »Rico?«, sagte ihre zwecklose Stimme.
    Sie sah seine Zunge zwischen den Lippen. Sie sah den umgekippten Stuhl.
    »Das ist gemein, dass du dich vordrängst«, sagte Julika. Sie spürte, wie
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