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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter
Autoren: Friedrich Ani
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Schulter.
    »Ich hab jemand umgebracht«, sagte Rico. »Ich muss der Polizei die Wahrheit sagen. Wir haben einen Fehler gemacht, Julika, ich muss zur Polizei…«
    »Nein«, sagte Julika. »Das wirst du nicht tun. Warum hast du solche Angst?«
    »Weil das nicht wirklich ist, was du sagst. Weil du nicht in der wirklichen Welt lebst.« Er schnaufte, stand auf, kratzte sich in den Haaren, betrachtete sein blaues Jeanshemd, jeden einzelnen Knopf, als wundere er sich darüber, stöhnte und sah zum Fenster, durch das nichts zu erkennen war. Dann setzte er sich wieder, legte die Arme nebeneinander auf den Tisch, krümmte die Finger wie Krallen, tippte unruhig auf die Plastikdecke, schloss die Augen und senkte erschöpft den Kopf.
    Julika hob die Hand und hielt sie an seine Wange, dicht an die Stoppeln, die in eigentümlichen winzigen Gruppen aus der Haut sprossen. Rico bewegte den Kopf nicht, als würde er lauern wie ein Tier.
    »Wenn du Liebste zu mir sagst, fängt die Wirklichkeit an, weißt du das nicht?«
    Er wusste es und wusste es nicht.
    »Ich war die ganze Zeit im Dunkeln. Als ich geboren wurde, war es Nacht. Aus den Augen meiner Mutter strömte schwarzes Licht, und mein Vater hatte sein Gesicht verdeckt, aber ich bin trotzdem erschrocken. Du denkst, an so etwas kann man sich nicht erinnern.«
    Er dachte es und dachte es nicht.
    »Ich kann mein Gedächtnis nicht auslöschen, das ist ein Fluch. Früher hab ich geglaubt, wenn ich alles aufschreib, wird die Erinnerung weniger, und ich fang an zu vergessen, die Schmerzen hören auf, und ich hab keine grausamen Träume mehr. Große Täuschung. In meinen Träumen kamen Gestalten aus Wäldern und liefen hinter mir her, und meine Beine knickten ein, und ich fiel hin. Kennst du solche Träume?«
    Er kannte sie und kannte sie nicht.
    »Und dann hab ich verstanden, dass das, was tagsüber geschieht, schrecklicher ist als das, was der Schlaf mit mir anstellt, und dass ich im Schlaf die wahre Julika bin. Das war eine Befreiung, sie hat mich getröstet, und das Schreiben ist mir leicht gefallen. Ich schrieb auf, was geschah, was mein Vater sagte und meine Mutter sich nicht getraute zu sagen, was die Lehrer von mir verlangten und meine Freunde und wie das Wetter war und welche berühmten Leute bei meinem Vater Kleidung einkauften.
    Nicht, weil ich das für wichtig hielt oder bedeutend für das Leben. Ich hab das alles an mir vorüberziehen lassen, als wär ich außerhalb, als würd ich von einem Hochsitz auf eine Lichtung schauen. Ich hab gedacht, ich komm davon, wenn ich unauffällig bleib, wenn ich die Dinge erledige, die man von mir verlangt. Wenn ich nicht frag und nichts sag und so tu, als wär ich einverstanden und ein guter Mitspieler. Nachts, hab ich den ganzen Tag gedacht, kehr ich in meine echte Haut zurück und seh die Welt, wie sie wirklich ist, und bin wirklich, und wenn ich Angst hab, muss ich die Angst überwinden. Und wenn ich auf einer Anhöhe steh und die Arme ausstreck vor Freude, dann reicht meine Freude bis zum nächsten Tag, den ich als die verkehrte Julika überstehen muss. Hattest du auch schon mal das Gefühl, du bist verkehrt und was du tust, ist schauspielern von früh bis spät, auf einer Bühne aus Straßen und Zimmern und Schule und Befehlen? Sag, Rico, wachst du manchmal auf und denkst: Jetzt beginnt das Lügen wieder, und wenn ich nicht gut genug lüg, dann sterb ich? Und wolltest du dich schon mal umbringen, weil du mutlos warst oder gottserbärmlich müd?«
    Er wollte sich umbringen und wollte es nicht. Er wollte es mehr, als er es nicht wollte. Aber dann war er zu feige dazu. Oder zu unentschlossen.
    »Ja«, sagte er.
    »Wie ich«, sagte Julika.
    »Wir habens nicht getan.«
    »Nein.«
    »Nein.«
    »Nein.«
    »Wir tun es auch nicht mehr.«
    »Nein«, sagte sie.
    Dann bewegte er sacht den Kopf. Da war ihre Hand. Er neigte den Kopf. Ihre Finger schmiegten sich an sein Gesicht. Oder er schmiegte sein Gesicht an ihre Finger. Er schloss die Augen. Julika ließ die Hand, wo sie war. Und nach einer Minute schlief Rico ein. Sie hörte seinen gleichmäßigen Atem und wusste nicht, was sie tun sollte. Sein Kopf lag schwer auf ihrer Hand. Behutsam zog sie sie weg, drückte Ricos Oberkörper nach vorn, bis seine Stirn den Tisch berührte, und drehte seinen Kopf zur Seite. Dann nahm sie ihren langen schwarzen Wollschal, formte ein Knäuel und bettete Ricos Kopf darauf. Er bemerkte nichts. Einmal stöhnte er, dann atmete er leise weiter.
    »Die Polizei wird dir
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