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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter
Autoren: Friedrich Ani
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die Zeit versickerte und sie vergaß, in dieser Wohnung jenseits der Nacht, diesseits des Tages.
    »Ich hätt dich nicht hungrig zurücklassen dürfen.«
    Sie wandte sich um und bewegte sich nicht mehr. Mehrere zeitlose Minuten lang. Dann ging sie hinüber in die Küche und nahm aus der Sporttasche mit dem Aufdruck »Funster« die kleine Schachtel heraus. Sie griff in die Innentasche ihrer Jacke.
    Es war nicht einfach, die Patronen ins Magazin zu schieben. Anschließend entsicherte sie die Pistole, wie Willi Gottow es ihr gezeigt hatte, und legte die Waffe auf den Tisch. Sie kehrte ins Zimmer zurück und stellte sich vor Rico. Mehrere zeitlose Minuten lang.
    »Dein Schweigen ist ein Geschenk für mich«, sagte sie. Sie fand ihre Stimme schön. Sie kehrte in die Küche zurück, nahm das schwarze Tagebuch aus der Sporttasche, setzte sich an den Tisch und malte einen Kreis auf eine leere Seite. Darunter schrieb sie: Niemand soll büßen, niemand soll hassen, niemand soll traurig sein. Wenn Rico etwas getan hat, was ich nicht verstehe, so bedeutet das nicht, dass es nicht gut war. Es ist mein Schal, den er benutzt hat, und dies hier ist seine Pistole, die ich für ihn gekauft habe. Ich tue, was er verlangt. Vielleicht wollte er nur spielen, denn er ist ein Kindsmann, zweiundzwanzig Jahre und ein Kindsmann und ich erst achtzehn und schon Mutter. Wir durften nicht leben und haben es dennoch getan. Wir durften uns nicht kennen und sind uns dennoch begegnet. Wir sind erwachsen genug für den Tod. Auf freiem Feld verscharrt zu werden, das ist mein Wunsch, gemeinsam mit meinem Rico, damit er sich nicht verirrt oder auf Gedanken kommt. Das ist nicht zu viel verlangt in dieser gierigen Zeit. Ich hätte ihn nicht hungrig zurücklassen dürfen.
    Unter den letzten Satz malte Julika einen zweiten Kreis, darein zwei große Augen und einen breiten Mund, und um den Kreis kleine Striche wie Sonnenstrahlen. Zum ersten Mal, seit sie dieses Tagebuch führte, hatten die Gesichter am Anfang und am Ende des Eintrags keine Ähnlichkeit. Sie schob das Tagebuch unter die Pullover in der Sporttasche und zog den Reißverschluss zu.
    Die eine Hand am Griff der Pistole, die andere am Lauf, ging sie hinüber.
    Wie vorher stellte sie sich vor Rico und blieb dort stehen.
    Mehrere zeitlose Minuten lang. Ihr Blick auf seinem Gesicht und nirgendwo sonst. Dann steckte sie den Lauf der Pistole in den Mund und drückte ab.

41
    E r war ein Mann, in dessen Vorstellung der Selbstmord keine Tür war, die sich öffnete, sondern eine, die sich schloss. Er lag auf dem Boden, Gesicht nach unten, Augen geschlossen, die Arme an den Körper gedrückt, die Hände wie Schalen an den von Stoppeln rauen Wangen, rau wie die des Erhängten, die Beine ausgestreckt wie die des Erhängten, die Füße über Kreuz wie die des toten Mädchens.
    Bis zum Morgengrauen lag er so da, ein implodierender Mann in einem Zimmer mit gelben Wänden. Er zählte die Tage, die er weg gewesen war. Sechs Tage draußen, einen Verbrecher verfolgt und überführt. Großer Erfolg. Verschwundene Schülerin gefunden. Großer Erfolg. Marlen Keel aus dem Koma erwacht. Großer Erfolg. Fotos im Fernsehen, Staatsanwältin rollt den Fall um das brennende Haus noch einmal auf. Großer Erfolg. Die Angehörigen des aus dem Fenster gestürzten Vietnamesen dürfen auf Entschädigung hoffen. Großer Erfolg. In der Sendung »Vor Ort« lobt Nicole Sorek die Arbeit des Dezernats 11, und Volker Thon nennt seinen Kollegen einen hervorragenden Kriminalisten. Großer Erfolg. Margit und Wolf de Vries stimmen zu, dass ihre Tochter auf einem Friedhof in der Nähe der Ostsee begraben wird, gemeinsam mit Marlen Keels Sohn.
    Er stand auf, duschte mit kaltem Wasser, wusch sich die Haare und holte im Wohnzimmer ein Buch aus dem Regal. Er stellte sich ans Fenster und las in den frühen Sonnabend, mit lauter Stimme ins Sonnensystem hinaus:
    »Wenn ihr Freunde vergesst, wenn ihr die Euern all, O ihr Dankbaren, sie, euere Dichter schmäht, Gott vergeb es, doch ehret Nur die Seele der Liebenden.
    Denn saget, wo lebt menschliches Leben sonst, Da die knechtische jetzt alles, die Sorge, zwingt?
    Darum wandelt der Gott auch Sorglos über dem Haupt uns längst.
    Doch, wie immer das Jahr kalt und gesanglos ist Zur beschiedenen Zeit, aber aus weißem Feld Grüne Halme doch sprossen, Oft ein einsamer Vogel singt, Wenn sich mählich der Wald dehnet, der Strom sich regt, Schon die mildere Luft leise von Mittag weht Zur erlesenen Stunde, So ein
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