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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter
Autoren: Friedrich Ani
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nicht.«
    »Du weißt ja gar nicht, wie sie heißen.«
    »Kenn ich trotzdem nicht.« Er legte die Arme über Kreuz auf den Tisch und stützte das Kinn auf.
    »Sie ist weg, weil sie unabhängig sein wollte«, sagte Julika. »Einen Tag nach dem Abi ist sie nach Berlin gezogen.«
    »Und jetzt wohnt sie hier.«
    »Sie zieht um, hat sie doch gesagt. Vielleicht können wir die Wohnung übernehmen, was meinst du?«
    »Jetzt schon?«
    »Was meinst du mit ›jetzt schon‹?« Er schwieg.
    »Ich hab Hunger. Du nicht?«
    »Nein.«
    Julika machte den Kühlschrank auf. Eine Flasche Milch, eine Flasche Vitaminsaft, eine Plastikflasche Vittel und zwei Gläser mit Gurken standen darin, dazu Margarine und ein Plastikschälchen mit Frischkäse. Julika schloss die Tür. »Später geh ich was einkaufen.«
    »Vergiss nicht abzusperren«, sagte Rico mit schwerer Stimme. Sie setzte sich zu ihm an den Tisch, schräg neben ihn, und legte wie er die Arme über Kreuz und den Kopf darauf.
    »Woher kannst du so gut Russisch?«, fragte sie.
    »Kann ich nicht, wir mussten es in der Schule lernen, aber ich habs nie richtig kapiert.«
    »Im Kaufhaus hat es ziemlich überzeugend geklungen.«
    »Weil niemand was verstanden hat.«
    »Wer ist Konstantinowitsch?«
    »So haben wir unseren Russischlehrer genannt.«
    »Was hast du dem Typ im Kaufhaus erzählt?« Wieder murmelte er Sätze auf Russisch.
    »Und was heißt das?«, fragte Julika.
    »Das kennst du doch.«
    »Woher denn?«
    »›Wir sollten lieber in die entgegengesetzte Richtung fahren, denn hier ist die Erde ja schon zu Ende, schlug Nimmerklug vor. Ja, fand auch Buntfleck, wir haben uns ein bisschen verschätzt. Fahr auf jeden Fall langsam, sonst kannst du nicht mehr rechtzeitig bremsen und so weiter.«
    »Das ist aus deinem Märchenbuch.«
    »Das ist kein Märchen.«
    »Was denn sonst?«
    »Eine Geschichte.«
    »Eine Märchengeschichte.«
    »Für mich war das alles wahr, was meine Mutter mir vorgelesen hat.«
    »Hat sie dir auf Russisch vorgelesen?«
    »Manchmal. Sie kann Russisch ungefähr so wie ich. Sie wollte, dass ich besser in der Schule werde. Bin ich aber nicht geworden.«
    »Ich auch nicht.«
    »Wir sind zwei Versager«, sagte Rico.
    »Jetzt nicht mehr«, sagte Julika.
    Nach einer langen Weile sagte Rico: »Ich wollt dir schon einen Brief schreiben. Ich hab angefangen, aber dann hab ich gedacht, wenn du liest, wie ich schreib, dann lachst du mich aus.«
    »Ich hätt dich niemals ausgelacht.«
    »Doch.«
    »Nein.«
    »Die Leute lachen immer, wenn sie das lesen, was ich schreib.«
    »Welche Leute?«
    »In der Firma, überall.«
    »Idioten.«
    »Ich schreib keine Briefe mehr.«
    »Du hast mir einen geschrieben.«
    »Wann?«
    »Du hast mir geschrieben, ich soll zu dir in die Firma kommen, du hast den Brief auf den Küchentisch gelegt.«
    »Das war doch kein Brief, nur eine Nachricht.«
    »Für mich war das ein Brief, und ich hab nicht gelacht. Hast du den anderen Brief noch?«
    »Nein.« Dann schwieg er, schloss die Augen, machte sie wieder auf und sah an ihr vorbei. »Ich hab mich geschämt.«
    »Vor mir brauchst du dich nicht zu schämen, okay?«
    »Okay.«
    »Scheiß auf die Vergangenheit, Rico!«
    »Was?«, sagte er laut und hob den Kopf.
    »Scheiß auf die Vergangenheit, die ist aus. Aus ist die. Ende.«
    Ihr Kopf schoss in die Höhe, und sie schlang die Arme um Ricos Schulter. Ihr Mund berührte sein Ohr. »Wir sind außerhalb der Vergangenheit.«
    »Was ist denn mit dir? Was hast du?«
    »Jenseits der Nacht, diesseits des Tages, das ist unser Ort und unsere Zeit.«
    »Was?« Er versuchte sich zu konzentrieren. Er versuchte ihren Worten hinterherzuhorchen.
    »Wir sind hier, Rico, niemand hat uns aufgehalten, niemand wird je wieder über unser Leben bestimmen. Nur du darfst über mein Leben bestimmen, nur du.«
    Er richtete sich auf. Ihre Arme blieben auf seiner Schulter und ihre Lippen nah an seinem Gesicht.
    »Schreibst du solche Sachen in dein Tagebuch? Diesseits des… diesseits…«
    »Diesseits des Tages, jenseits der Nacht«, sagte Julika.
    »Was bedeutet das?«
    »Weißt du das nicht?«
    »Nein.«
    »Doch«, sagte sie, so leise, dass er es kaum verstand. Er wollte sich am Kopf kratzen, traute sich aber nicht.
    »Sieh dich um«, sagte Julika. »Schau, wo wir sind, schau mich an.«
    Er drehte den Kopf. Die Narbe auf seiner Stirn hatte eine dunkle Farbe.
    »Hier… hier sind wir in Sicherheit«, sagte Julika. Er sah weg und lehnte sich zurück. Sie nahm die Arme von seiner
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