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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter
Autoren: Friedrich Ani
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Auto…«
    Sie spürte einen leichten Schlag am Arm. Bevor sie begriff, dass Rico ihr ein eigenartiges Zeichen gegeben hatte, ging er schon auf die niedrige weiße Schwingtür zu, die zum Verkaufsraum hinter der Theke führte. Er öffnete sie und streckte, ohne dass jemand Notiz davon nahm, den Arm nach den Gläsern aus. Julika sah, wie er nach einem Glas mit einem roten und einem mit einem dunkelblauen Deckel griff, mit der anderen Hand den Kreppverschluss an der Seitentasche seiner Daunenjacke aufriss und die Gläser darin verstaute. Als er zur Schwingtür zurückging, versperrte ihm ein junger Mann in einem weißen Kittel den Weg.
    »Was soll das denn?«
    Und Rico – Julika kam einen Schritt näher, weil sie glaubte, sich verhört zu haben – erwiderte etwas auf Russisch. Perplex hörte der Kittelmann ihm zu. Rico redete und gestikulierte, schob sich dabei an dem Mann vorbei, der die Schwingtür halb geöffnet hatte, und deutete auf die Vitrine. Julika verstand die Worte Beluga und Sevruga und dann, wenn sie sich nicht täuschte, den Namen Konstantinowitsch. Und sie sah, wie Rico sich verbeugte, nach einer geschickten Drehung davonlief und in der Menschenmenge verschwand. Einige Sekunden tat der Kittelmann nichts. Dann sah er sich nach jemandem um, den er um Rat fragen könnte, und bemerkte Julika, die sich nicht von der Stelle bewegte.
    »Ich glaube, der hat uns beklaut!« Julika lächelte.
    »Sie sind meine Zeugin, der hat Kaviar geklaut, Sie haben das doch gesehen, der Russe hat uns beklaut!« Der Verkäufer hatte rote Ohren und blinzelte hektisch.
    Julika deutete auf ihre Ohren und ihren Mund. Der Kittelmann riss die Augen auf. Wieder lächelte Julika, küsste ihren Schal, wedelte damit und wandte sich zum Gehen.
    »Augenblickchen!«, rief der Kittelmann. »Sie sind eine Zeugin…«
    »Merken Sie nicht, das Mädchen ist taubstumm«, sagte eine Frau im Pelzmantel. »Was ist denn passiert?«
    Ohne auf jemanden zu achten, ging Julika eilig zur Rolltreppe, hielt mit gesenktem Kopf Ausschau nach dem Mann vom Sicherheitsdienst und drängte sich auf der fahrenden Treppe an den Leuten vorbei. Rico war nirgends zu sehen. Seine Aktion hatte Julika in einen Zustand von Euphorie versetzt. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass er ausgerechnet im Kaufhaus des Westens am helllichten Tag vor allen Leuten zum Dieb werden würde! Und dann redete er auch noch russisch, was sie entzückt hatte. Er hatte einen irren Mut. Jetzt konnte ihnen nichts mehr passieren, jetzt hatten sie eine Grenze überschritten, und niemand konnte sie mehr aufhalten. Und sollte sich ihnen jemand in den Weg stellen, würde sie die Pistole benutzen, die sie in der Jacke bei sich trug. Für solche Zwecke hatte sie in seinem Auftrag die Waffe besorgt.
    Inmitten Hunderter von Kunden erreichte sie die Eingangshalle. Noch einmal sah sie sich um. Besucher waren mit der Betrachtung von Teppichen und Handtaschen beschäftigt, rochen an parfümierten Papierfähnchen, warteten darauf, von einer Visagistin geschminkt zu werden.
    Vor der Tür brauchte sie nicht länger nach Rico zu suchen. Trotz der Menschenmenge, die an ihr vorbeiströmte, und der vielen Schirme, die die Leute aufgespannt hatten, obwohl es nur nieselte und der eisige Wind noch stärker blies als zuvor, sah sie ihn sofort. Er redete mit dem Mann, der die Messer verkaufte.

34
    I ch esse keinen Kaviar«, sagte der Mann, der die Messer verkaufte. »Liegt mir zu schwer im Magen.«
    »Ich schenk sie Ihnen trotzdem.« Rico hatte die Gläser in den hölzernen Kasten gelegt.
    »Hallo«, sagte Julika.
    Zum ersten Mal war er es, der nach ihrer Hand griff.
    »Dann nehmen Sie ein Messer, und ich behalt den Kaviar und verschenk ihn weiter, da findet sich immer jemand, der so was mag.«
    »Ich brauch kein Messer«, sagte Rico.
    »Das kann man nie wissen«, sagte der Mann. »Suchen Sie sich eins aus oder nehmen Sie den Kaviar mit.«
    »Schau!«, sagte Julika. »Das ist ein Schweizer Messer mit Schere und Nagelfeile.«
    »Und einem Flaschenöffner«, sagte der Mann im langen Mantel.
    »Ich brauch kein Messer«, wiederholte Rico. Plötzlich bildete Julika sich ein, hinter ihr würden die Männer des Sicherheitsdienstes schon darauf lauern sie festzunehmen.
    »Lass uns gehen«, sagte sie.
    »Ja«, sagte Rico.
    »Vergessen Sie den Kaviar nicht!«
    Sie ließen die Gläser liegen und reihten sich in den Strom der Fußgänger ein, Hand in Hand. Manchmal war Julika einen Schritt voraus, manchmal Rico. Vorbei an
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