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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter
Autoren: Friedrich Ani
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er neben ihr, die Hände an die Thekenkante gepresst, mit steifen Beinen, wirr um sich blickend. In diesem Augenblick machte er auf Julika den Eindruck eines Menschen, der taub war vor lauter Alleinsein. Und diesen Zustand kannte sie wie niemand sonst.
    »Ich geh nicht weg«, sagte sie. »Ich bin gleich wieder da. Ich ruf Sarin noch mal an.«
    »Von wo?«, fragte er mit tonloser Stimme.
    »Da drüben hängt ein Telefon.«
    Er schaute nicht hin. Wieder strich sie ihm übers Gesicht, von der Stirn bis zum Kinn. Doch diesmal war er zum Schnuppern zu abwesend.
    Dann bemerkte er, wie Julika zur Wand ging, an der der Apparat hing, und er wünschte, sie würde umkehren. Sie fehlte ihm schon.
    Von solchen Empfindungen überfordert, wandte er sich um, traf den Blick der Frau mit der weißen Schürze, die sie bedient hatte, stieß sich von der Theke ab und ging weg.
    »Moment mal!«, rief ihm die Frau hinterher. Er beachtete sie nicht. »Wir kommen wieder«, sagte er.
    »Erst bezahlen Sie!«, sagte die Frau. Er ging weiter.
    Nach fünf Schritten tippte ihm ein Mann in einem dunklen Anzug auf die Schulter. »Würden Sie bitte stehen bleiben?«
    Rico blieb stehen.
    »Sie müssen Ihre Rechnung bezahlen«, sagte der Mann.
    »Ich komm ja wieder«, sagte Rico.
    »Bitte bezahlen Sie die Rechnung.« Der Mann war einen Kopf größer und eine Schulter breiter als Rico. Trau dich!, dachte Rico.
    Der Mann streckte die Hand aus, um nach Ricos Arm zu greifen, und Rico schlug sie mit einer Gewandtheit weg, die den Mann verblüffte.
    »Nicht anfassen!«, sagte Rico.
    Der Mann hob die Hand. »Ich möchte Sie bitten Ihre Rechnung zu bezahlen. Ich kann den Manager rufen, wir nehmen Sie mit, und Sie kriegen eine Anzeige, das muss doch nicht sein.«
    »Wer sind Sie?«, fragte Rico.
    »Sicherheitsdienst.«
    »Sicherheitsdienst«, sagte Rico. Er hätte gern gewusst, welche Waffe der Mann unter dem Sakko trug.
    »Alles geregelt«, sagte jemand hinter dem Mann.
    »Ich hab die Rechnung bezahlt«, sagte Julika. Der Mann stülpte seinen Blick über sie.
    »Wiedersehen«, sagte Julika und nahm Ricos Hand. Sie gingen an Ständen vorüber, an denen Hühner und Enten angeboten wurden, und an anderen voller Würste mit Schildern: »Bayern«, »Thüringen«, »Ungarn«, »Elsass«.
    »Wo wolltest du hin?«, fragte Julika. Nach einigen Metern sagte Rico: »Ans Meer.«
    Er deutete auf ein Schild: »Fischkutter«.
    »Möchtest du eine Fischsemmel?«, fragte Julika.
    »Das heißt Brötchen«, sagte Rico.
    »Möchtest du ein Fischbrötchen?«
    Rico hatte eine neue Theke entdeckt. Die Preise waren für ihn so unfassbar, dass er, als er sich in den Haaren kratzte, die Hand nicht mehr vom Kopf brachte. Wie hypnotisiert betrachtete er die Dosen und Gläser mit den roten, braunen, gelben und blauen Dosen, die sich in der Vitrine stapelten.
    »Hundertfünfundzwanzig Euro für fünfzig Gramm«, sagte er, kratzte sich und krallte die Finger in die Haare.
    »Hundertachtundsiebzig Euro für. sechsundfünfzig Gramm. Zweihundertvierzig Euro für hundert Gramm.« Es hörte sich an, als lerne er eine absurde Gleichung auswendig.
    »Das ist Kaviar«, sagte Julika. »Aus dem Iran, aus Russland, Beluga, siehst du, Sevruga und Ossi… Osiestra…«
    »Hast du so was schon mal gegessen?«, fragte Rico und wischte sich die Hand, als wäre sie schmutzig, an der Hose ab.
    »Nein«, sagte Julika. »Bei uns gabs immer nur falschen Kaviar, den deutschen, mit gekochten Eiern. Meine Oma hat das manchmal zum Abendessen gemacht.«
    »Entenleberblock«, las Rico. »Gänseleberblock. Neunundvierzig Euro fünfundneunzig. Mir ist schlecht.«
    »Du musst was essen, Rico.«
    »Nein!«, sagte er laut.
    Ungefähr zwanzig Köpfe drehten sich zu ihm um.
    »Ich hab gedacht, du freust dich, wenn du das alles siehst«, sagte sie.
    »Wiese soll ich mich da freuen?« Er wirkte, als fasziniere ihn eine bestimmte Sorte Kaviar besonders.
    »Weil das schöne Sachen sind.«
    »Wenn du reich bist, sind sie schön, wenn du kein Geld hast, sind sie eine Beleidigung und eine Provokation.«
    »Jetzt redest du wie einer eurer Funktionäre von früher. Ich hab Filme über die DDR in der Schule gesehen…«
    »Glück gehabt«, sagte Rico, und sein Blick warf Schatten. »Ich hab die DDR in der Wirklichkeit gehabt.«
    »Lass uns gehen«, sagte Julika. »Sarin hat gesagt, wir sollen uns beeilen, sie muss aus dem Haus, sie wartet schon auf uns. Wir brauchen mindestens eine halbe Stunde bis zu ihr. Und bis wir beim
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