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Gottes Gehirn

Gottes Gehirn

Titel: Gottes Gehirn
Autoren: Jens Johler , Olaf-Axel Burow
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wahrscheinlich, worauf ich hinaus will.“
Niemand ahnte etwas. Nun ja, Troller doch.
„Ich rede, meine Damen und Herren,“ fuhr Kranich fort, „von der Mauer, welche die Wissenschaft zwischen sich und den anderen Feldern der Erkenntnis errichtet hat. Diese Mauer, so lautet meine These, wird fallen.“
Schweigen. Das Publikum schien ergriffen zu sein. Troller war es nicht. Was Kranich da vortrug, war nichts Neues für ihn. Sie hatten schon einige Male darüber gesprochen.
„Im Auge der Wissenschaft“, fuhr Kranich fort, „gibt es wie in jedem Auge einen blinden Fleck. Die Wissenschaft leugnet oder übersieht gern, was ihr nicht ins Konzept passt. Wenn wir also wissen wollen, was das Neue ist, das auf uns zukommt, dann müssen wir uns den Rändern, den Randzonen, den Grenzbereichen zuwenden.“
Er ist schon wieder einen Tick schneller als ich, dachte Troller. Ich denke darüber nach, und er hält Vorträge darüber.
„Wer von Ihnen, meine Damen“, sagte Kranich jetzt und lächelte charmant, „interessiert sich nicht für Horoskope oder alternative Heilverfahren? Ich bin sicher, Sie alle haben schon einmal Zuflucht zu magischen Beschwörungsformeln genommen oder die eine oder andere fernöstliche Weisheit befolgt. Nun, je mehr die Wissenschaft versucht, diese Phänomene wegzuerklären, desto hartnäckiger kommen sie zur Hintertür wieder herein – von den Naturheilverfahren bis zum biologischen Anbau, von der Orgontheorie bis zur Theorie der morphogenetischen Felder, vom Vitalismus bis zu den Psi-Kräften. In diesem ganzen Bereich, der sich vom Alternativen bis zum Esoterischen erstreckt, sind – das fühlen wir im Grunde genommen alle – tiefe Wahrheiten verborgen. Hier könnte eine weitere Bifurkation entstehen, eine veränderte Weichenstellung, und wer weiß, vielleicht ist es ja schon geschehen? Jedenfalls scheinen die Menschen den Wissenschaftlern davonzulaufen und ihr Glück bei anderen Ratgebern zu suchen.“
    Kranich hielt inne und schien ganz zufrieden mit der Vorstellung von der Entwertung seiner Zunft.
    „Und warum auch nicht?“, sagte er. „Jedenfalls handelt es sich bei der Hinwendung zu den Phänomenen, von denen ich gesprochen habe, um eine sehr praktische und lebendige Kritik an der Wissenschaft. Um eine Abstimmung mit den Köpfen, mit den Herzen, mit den Füßen, mit dem Geldbeutel. Und, ob Sie mich nun dafür aus lachen oder nicht, ich behaupte: Es handelt sich dabei um Vorboten einer Entmachtung der Wissenschaft, wenigstens in ihrer begrenzten, in Einzeldisziplinen zersplitterten Form.“
Ja, dachte Troller, aber das Problem ist doch: Kann es überhaupt eine neue Einheit der Wissenschaft geben? Oder ist sie für immer verloren? Das war genau die Frage, die ihn in seinem Buch beschäftigte.
In diesem Augenblick stockte Kranich, als hätte er Trollers Frage gehört, als herrschte zwischen ihm und Troller ein telepathischer Zusammenhang. Er schaute wie suchend ins Publikum, und Troller verspürte für einen Moment den Impuls, aufzustehen und „hier“ zu rufen. Dann richteten sich Kranichs Augen nach links oben, als ob er an der hinteren Wand des Raumes ein Bild sähe, eine Erscheinung.
Im Publikum entstand eine gewisse Unruhe. Hatte der Professor einen Blackout? Kam noch was? Oder sollte man lieber gehen?
Doch bevor die Pause unerträglich peinlich wurde, kam Kranich wieder zu sich. Er habe eben einen Gedanken gehabt, sagte er, der ihn nicht losgelassen habe. Er habe nämlich an eine sehr eigenartige Konferenz denken müssen, an der er einmal teilgenommen hätte, an eine Konferenz von Wissenschaftlern aller Disziplinen, die im Jahre 1995 auf Hawaii stattgefunden habe, die so genannte Blake-Konferenz. Phineas Blake, der Nobelpreisträger für Biologie, habe damals namhafte Wissenschaftler aller Länder und aller Couleur zusammengerufen, um mit ihnen über die Möglichkeiten interdisziplinärer, ja transdisziplinärer Zusammenarbeit zu diskutieren – und gerade eben sei ihm, Kranich, der Gedanke gekommen, dass Blake damals wohl wirklich so etwas vorgeschwebt habe wie eine Wiedervereinigung der zersplitterten Wissenschaften, also die Einheit des Wissens. Es sei bei dieser Konferenz allerdings so drunter und drüber gegangen – „ano kato“ hätte sein griechischer Kollege Kostadidis immer nur kopfschüttelnd gesagt, „ano kato“ –, dass man sich von dem Traum, die Wissenschaften wiederzuvereinigen, wahrscheinlich ein für alle Mal verabschieden könne. „Doch das nur nebenbei“,
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