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Gottes blutiger Himmel

Gottes blutiger Himmel

Titel: Gottes blutiger Himmel
Autoren: Fawwaz Hahhad
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wieder wie zur finsteren Zeit der Inquisition!«
    Was mich tatsächlich in Gegensatz zu ihnen brachte, nachdem ich bis dahin nur als forschender Beobachter Zeuge geworden war, wie sich Religion in ein Instrument der Agitation, der Verweigerung, der Veränderung und der Revolution gewandelt hatte, war der Anschlag der al-Qaida gegen das World Trade Center in New York. Ein Angriff, der auf unschuldige Zivilisten zielte oder doch zumindest ihren Tod in Kauf nahm. Die sofortige amerikanische Reaktion mit der Bombardierung Afghanistans und der darauffolgenden Ausweitung des Krieges in den Irak gab uns zudem einen Vorgeschmack darauf, welche Hölle der arabischen und islamischen Welt bevorstünde und wie sich die Welt in ein offenes Schlachtfeld für Selbstmordattentäter verwandeln konnte.
    Später sah ich Hassan einige Monate lang nicht mehr, weil ich im Rahmen meiner Arbeit in mehreren arabischen Ländern zum Anwachsen des religiösen Fundamentalismus recherchieren musste. Einmal verabredeten wir uns in Damaskus im Café Havanna, wo er mir berichtete, wie frustriert er über die Lage in unserem Land sei. Er glaube nicht einmal mehr an die angekündigten administrativen Reformen, klagte er. Ich tröstete ihn, indem ich sagte, dass seine Zeitungsartikel noch viel Optimismus ausstrahlten, und ich log dabei nicht. Doch er meinte, er versuche nur, sich in seinen Artikeln seine momentane Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er las seinerseits auch meine Recherchen, wie jenen Essay, den ich kurz zuvor in der Zeitschrift »Arabische Zukunft« unter dem Titel »Wohin steuert der politische Islam?« veröffentlicht hatte. »Ist der Islamismus eine Gefahr, vor derdu warnen willst?«, wollte er wissen, und ich antwortete: »Möglicherweise ist er eine Katastrophe, die nicht mehr abzuwenden ist.«
    Was Hassan und der Andere, der ich einmal gewesen war, sich in Erinnerung riefen, war ein einigermaßen redliches Resümee dessen, was sie beide einst umgetrieben hatte und was sie gemeinsam erlebt hatten. Und welche Ironie, jeder von ihnen hatte ein Intellektueller sein wollen, der seiner Gesellschaft dient – jener Gesellschaft, die sich später gegen ihn wenden sollte.
6
    Gab es noch viel, was ich über den Anderen nicht wusste? Eigentlich nicht, nur ein kleiner schwarzer Fleck blieb, der die letzten paar Monate verdeckte, und genau die waren es, die mir Angst machten. Ich schloss nicht aus, dass das, wessen der Andere sich nach und nach wieder entsann, eine Wucht entfalten könnte, die meinem gewohnten dumpfen Dasein den Boden entziehen, ja meine Existenz bedrohen würde. Ich versuchte Hassan zu erklären, wobei ich für den Anderen sprach, dass das, was in mir vorging, ein Akt eigenmächtiger Selektion sei, und fragte ihn, ob dies denn, wenn auch unbewusst, nicht gewissermaßen weitsichtig sei und von einem gesunden Selbsterhaltungstrieb zeuge.
    War dies meinerseits Übertreibung oder Prophezeiung gewesen?
    Ich wusste, dass mich ein Sturm erwartete, und wenn er losbräche, dann käme er vielleicht zur Unzeit, wenn mir Abwehr- und Widerstandskräfte fehlen würden. Ich konnte mir vorstellen, was mir bevorstand: Ein Trauma, das, wenn es nicht tödlich wäre, mir doch enorme Pein verursachenund unerträgliche Konsequenzen haben würde, eine nebulöse, grausame Mischung aus Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit und Verlassensein. Wenn ich mich nur flüchtig, gezielt oder versehentlich, diesem dunklen Fleck zuwandte, stürzte ich im Nu in ein Fegefeuer aus Phantasiebildern: nackte Leiber, die sich halbtot aus einem schwarzen Sumpf erhoben, so weit der Blick reichte, Menschen, die ihr Gesicht oder ihre Scham bedeckten, während auf dem Grund Überreste von verwundeten Männern und Frauen, Leichname mit weit aufgerissenen flehenden Mündern lagen … Szenen wie am Tag des Jüngsten Gerichts!
    »Es ist wie ein mittelalterliches Gemälde von Hölle und Strafe«, erläuterte ich Hassan meine Visionen. »Liegt dem nicht etwas Religiöses zugrunde? Vielleicht will ich mich innerlich auf den Tag des Gerichts vorbereiten.« Er sagte: »Dein Gedächtnis wiederzuerlangen ist zum mindesten eine Prüfung. Diese Phantasiebilder haben mit dem zu tun, was du im Irak durchlebt hast. Dort verging vermutlich kein Tag ohne Abrechnung, Strafe und Mord.«
    Eine andere Deutung hatte ich nicht erwartet.
    Meine Gedanken irrten in der Vorahnung eines Übels umher, das ich nur erahnen konnte, und die Leere, die mich umgab, erdrückte mich beinahe. Extreme
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