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Die Rote Spur Des Zorns

Die Rote Spur Des Zorns

Titel: Die Rote Spur Des Zorns
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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    D ie kleine Abendessensgesellschaft verabschiedete sich gerade voneinander, da kamen sie vorbei: ein paar junge Rowdys, drei oder vier, die sich als verschwommener heller Streifen von Führerkabine und Ladefläche irgendeines alltäglichen Pick-up abhoben. Emil Dvorak hörte ihre Hupe gellen, als er sich eine Flasche Wein unter den Arm klemmte und seinen beiden Gastgebern die Hand schütteln wollte. Es klang wie ein Horn, das zu einer wilden, fröhlichen Jagd blies. Dann erschien der Wagen von der Five Mile Road her im Flutlicht des Landhotels.
    »Schwule Säue!«, schrien mehrere raue Stimmen. »Fahrt zur Hölle!« Obszönere Zurufe schwerer Zungen wurden von der Nachtluft verschluckt, während der Pick-up vorbeibrauste. Die Hunde im Auslaufgehege hinter dem Haus reagierten mit hellem, aufgeregtem Gebell.
    »Verdammt!«, sagte Ron Handler.
    »Hast du diesmal das Nummernschild erkannt?«, fragte Stephen Obrowski.
    Sein Partner schüttelte den Kopf. »Zu schnell. Zu dunkel.«
    »Kam das schon öfter vor?« Emil steckte seine Flasche unter den anderen Arm. Der Strahler an der Außenwand des Hotels gab ihm plötzlich ein Gefühl der Schutzlosigkeit; sein Auto war hell beleuchtet, die Gesichter seiner Gastgeber deutlich erkennbar. Und bestimmt auch sein eigenes. Er stellte fest, dass seine Hand feucht war. »Habt ihr das der Polizei gemeldet?«
    »Es passiert erst seit zwei, drei Wochen«, antwortete Steve. »Wahrscheinlich nur so ein paar High-School-Abgänger, die sich aufführen, weil sie nicht mehr die Schulbank drücken müssen.«
    »Ich glaube eher, die sind aus dem Knast entlassen worden«, sagte Ron.
    »Wir haben es der Polizei gemeldet. Das Hotel steht jetzt auf der Liste von Objekten, wo die Streife vorbeifährt.«
    »Nicht, dass es was nutzen würde«, fügte Ron hinzu. »Die Bullen haben Besseres zu tun, als Schwulenklatscher zu jagen. Wenn die überhaupt mal kontrollieren, dann nur, weil das Hotel kostbare Turista -Dollars bringt.«
    »Ja, der Tourismus hält Millers Kill am Leben«, bestätigte Emil, »aber Chief Van Alstyne ist in Ordnung. Der würde solche Vorfälle nicht dulden, egal, auf wen oder was dieser Abschaum es abgesehen hat.«
    »Besser, ich rufe im Polizeirevier an und sage Bescheid, dass wir wieder belästigt wurden. Ein Glück, dass unsere Gäste alle schon im Bett sind.« Ron drückte Emil freundschaftlich den Oberarm. »Danke für deinen Besuch. Tut mir leid, dass der Abend so mies ausgeklungen ist.« Er verschwand hinter dem Hoteleingang, einer mit Schnitzereien verzierten Flügeltür.
    Steve sah mit zusammengekniffenen Augen die Straße hinab. »Meinst du wirklich, dass dir nichts passiert? Du so ganz allein unterwegs, wo sich solche Rowdys rumtreiben – das gefällt mir nicht.«
    Emil machte eine hilflose Geste. »Schau mich doch an. Ein Typ mittleren Alters in einem Chrysler mit Arzt-Kennzeichen. Was könnte normaler und bürgerlicher sein?« Er legte Steve eine Hand auf die Schulter und schüttelte ihn leicht. »Mir passiert schon nichts. Sobald mich jemand verfolgt, schlage ich ihm mit diesem vorzüglichen Chardonnay den Schädel ein.«
    »Untersteh dich! Die Flasche wird auf dem freien Markt höher gehandelt als du.«
    Emil lachte, und sie verabschiedeten sich voneinander. Während er die Weinflasche unter den Beifahrersitz seines Le-Baron-Kabrio klemmte, überlegte er, ob er das Verdeck zumachen solle. Er seufzte. Er wurde alt, wenn ihn ein paar betrunkene Schreihälse so nervös machten. Zum Teufel mit ihnen! Die waren es nicht wert, dass man zwanzig Minuten mit dem Verdeck kämpfte oder in einer warmen Juninacht auf den frischen Fahrtwind verzichtete.
    Das im viktorianischen Stil erbaute Hotel verschwand hinter ihm, während er ostwärts fuhr. Er bog von der Five Mile Road auf die Route 121 ab, eine zweispurige Landstraße, die einerseits vom Millers Kill begrenzt wurde, dem Fluss, dem die Provinzmetropole ihren Namen verdankte, andererseits von Milchviehfarmen und Getreidefeldern. In der dunklen Neumondnacht waren die Ahornbäume und Platanen entlang der Straße nichts als graue Schatten vor tiefem Schwarz. Die Scheinwerferkegel, die auf das saftig-sommerliche Grün des Laubes fielen, erinnerten Emil an Tauchgänge in der Karibik: Farbe und dunkle Schatten direkt voraus, am Rande des Blickfelds ein vereinzeltes Blinken in der Schwärze.
    Ein rot-weißes Lichterpaar blitzte auf, und sekundenlang sah er vor seinem geistigen Auge Korallenfische. Er blinzelte. Die Lichter nahmen
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