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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Autoren: Helene Wecker
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zögernd, andere trotzig, die im Verborgenen und unpassend Verliebten, die glücklichen und die verzweifelten. Ihr Verlangen stieg wie Saft von den Bäumen auf.
    Anna fragte: »Hast du von ihm gehört?«
    »Was?«, sagte der Golem erschrocken. »Oh. Ja, er hat ein Telegramm aus Marseille geschickt. Und dann eins aus Beirut, letzte Woche, um zu sagen, dass er gut angekommen ist. Sonst nichts.«
    »Es wird schon werden.«
    Der Golem nickte – die Beteuerung war gut gemeint, wenn auch etwas windig. Aber der Golem wusste besser als Anna, was den Dschinn erwartete.
    »Und wenn er zurückkommt«, sagte Anna, »was wirst du dann tun?«
    Wider Willen musste der Golem lächeln. Die meisten Menschen würden einer gerade verwitweten Frau so eine Frage nicht stellen. »Ich dachte, du magst ihn nicht.«
    »Ich mag ihn nicht. Aber
du
magst ihn. Und deswegen solltest du etwas tun.«
    »Es ist kompliziert«, sagte der Golem.
    Anna verdrehte die Augen. »Das ist es immer.«
    Ja, aber war es jemals
so
kompliziert? Sie hatte Ahmad nur einmal wiedergesehen, bevor er nach Marseille abgereist war, und es war, als würden sie ihre ersten gemeinsamen Tage noch einmal erleben. Sie waren vorsichtig miteinander, unsicher, was sie sagen sollten. Sie waren zu den Docks am Hudson River gegangen, wo die Schauermänner im Schein der elektrischen Lichter Lasten hin und her trugen.
An was erinnerst du dich?
, hatte der Dschinn schließlich gefragt, und der Golem hatte geantwortet:
An alles.
Seiner Miene war abzulesen, dass es liebenswürdiger gewesen wäre zu lügen, so zu tun, als würde sie sich nicht an seinen Versuch, sie zu zerstören, erinnern; aber diesen Weg hatte sie mit Michael beschritten, und sie würde keinen Fuß mehr darauf setzen.
Wenn ich mich nicht daran erinnern würde
, sagte sie,
würdest du es mir dann erzählen
? Und er schaute eine Weile den Schauermännern zu, bevor er sagte:
Ich weiß es nicht.
Wenigstens eine ehrliche Antwort.
    Und dann begannen sie langsam und zögernd miteinander zu reden. Er erzählte ihr von Saleh, dem beschädigten Kopf des Mannes, seine unglaubliche Heilung durch Schaalman.
Hast du ihn gut gekannt?
fragte der Golem, und der Dschinn antwortete bedauernd:
Nein, überhaupt nicht gut.
    Der Golem sagte:
Wenn ich ihn nicht verletzt hätte, hätte er vielleicht …
    Er wäre trotzdem umgekommen.
    Das kannst du nicht wissen.
    Chava, hör auf. Salehs Tod ist nicht deine Schuld.
    Aber war er es nicht doch, zumindest teilweise? Sie hatte vorgehabt, ihn umzubringen, hatte ihn mit freudiger Hingabe angegriffen. Es wäre so viel leichter, ihr selbst zu verzeihen, zu glauben, dass alles Schaalmans Schuld war, wenn sie sich nicht an diese Freude erinnern würde. Und was war mit Michael? An seinem Grab hatte sie sich schuldig und bekümmert gefühlt – aber wie sollte sie diese Gefühle mit der Erleichterung vereinbaren, die sie empfunden hatte, als sie erfuhr, dass ihr Meister ihn getötet hatte? So sehr sie es auch versuchte, sie konnte das Selbst nicht leugnen, das sie in diesen Momenten gewesen war – und auch nicht das Gefühl, als hätte sie seit Rotfelds Tod geschlafen und wäre endlich zu ihrem wahren Leben erwacht.
    Schließlich waren sie von den Docks nach Little Syria gegangen, zu einem unauffälligen Wohnhaus, und hatten unter einer wundersamen Deckenverkleidung aus Blech gestanden. Er zeigte ihr seine Lieblingsorte, die Entdeckungen seiner Kindheit, das Tal, in dem er seinen Palast gebaut hatte; und sie hatte seine Unruhe bei dem Gedanken, nach Hause zurückzukehren, gespürt. Schließlich sagte er:
Wenn meine Artgenossen noch am Leben sind, können sie mich vielleicht befreien.
    Sie stand da, hörte es und sagte dann kleinlaut:
Das würde mich sehr für dich freuen.
    Er legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte ihren Namen; sie schmiegte sich an ihn, an seine warme Schulter, und er küsste sie auf die Stirn.
Das ist kein Lebwohl
, sagte er.
Was immer passiert, ich werde zurückkommen. Das verspreche ich.
Es war tröstlich, das zu hören – aber wenn ihn nur ein Versprechen zurückbrachte, was für eine Abneigung würde daraus erwachsen? Sie dachte, dass ihm das Leben in New York, sobald er befreit wäre, wie ein Traum erscheinen musste, aus dem man schaudernd und erleichtert erwacht.
    Der Wind im Park frischte auf, doch die Nachmittagssonne schien weiter und verwandelte die Baumwipfel in leuchtende Flammen. Stimmen von der Bethesda Terrace schwebten über das Wasser bis zu ihnen,
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