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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Autoren: Helene Wecker
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geisterhafte Gespräche in tausend Sprachen. Toby schlief in seinem Kinderwagen ein, seine Hände auf der Decke eingerollt wie Muscheln. Er runzelte die Stirn, schürzte die kleinen roten Lippen und träumte von der Brust seiner Mutter.
    Sie verließen den Wald und gingen nach Osten zur Straße. Anna plapperte jetzt die ganze Zeit – erzählte Klatschgeschichten über ihre Arbeitgeber und die Geheimnisse, die die Wäsche über eine Person verriet. Doch ihre Fröhlichkeit ließ bald wieder nach. Der Golem spürte ihr wachsendes Unbehagen, ihren Wunsch, woanders, in sicherer Gesellschaft zu sein.
    »Ich glaube, wir gehen jetzt nach Hause«, sagte die junge Frau schließlich. »Der Kleine wird bald sein Abendessen brauchen.«
    »Es war schön, dich zu sehen, Anna.«
    »Mich hat es auch gefreut«, sagte Anna, und nach einer Weile fügte sie hinzu: »Ich habe ernst gemeint, was ich vorhin gesagt habe über Ahmad. Wenn du kannst, solltest du versuchen, glücklich zu werden.« Und das Mädchen schob den Kinderwagen davon. Der Wind zerrte an ihrem dünnen Umhang.

    Der Dschinn ging in die Wüste.
    Er marschierte einen ganzen Tag lang, den Koffer in der Hand. Gelegentlich erspähte ihn aus der Ferne ein Geschöpf, ein Ghul oder ein Kobold, und sie näherten sich ihm, um schadenfroh nachzuforschen, warum ein Mensch so weit vom Weg abgekommen war – aber dann erkannten sie, was er war, und zogen sich furchtsam und verwirrt zurück und ließen ihn in Ruhe. Er hatte nichts anderes erwartet; dennoch schmerzte es ihn.
    Insgesamt hatte sich die Wüste seit seinem Verschwinden kaum verändert; er kam an denselben gezackten Bergen und den Tälern vorbei, durch die er einst geflogen war, denselben Höhlen, Klippen und Verstecken. Doch in kleinen Dingen hatte sich die Landschaft stark gewandelt. Für ihn war es, als hätte ein ganzes Jahrtausend von Wind, Sonne und Jahreszeiten seine Wirkung auf einmal entfaltet, Flussbetten mit Sand aufgefüllt und Berghänge abgetragen, große Felsen zu kleinen Steinen zerbrochen. Er dachte an die Blechdecke in New York, die nicht länger eine Landkarte, sondern ein Artefakt war, das Abbild einer uralten Erinnerung.
    Der Abend dämmerte, als er sich den Siedlungen der Dschinn näherte, dem Land seiner Verwandten. Er ging langsamer in der Hoffnung, bemerkt zu werden. An der Grenze blieb er stehen und wartete. Bald sah er sie: ein Aufgebot von einem Dutzend Dschinn, die körperlos auf ihn zuflogen.
    Er war erleichtert: Sie lebten noch. Das zumindest hatte sich nicht geändert.
    Sie hielten vor ihm an, und er sah, dass es die Ältesten waren, aber es war keiner dabei, den er kannte. Eine Dschinniya, die älteste von allen, sprach ihn in der Sprache an, von der er geglaubt hatte, dass er sie nie wieder hören würde.
    Was bist du?
    »Ein Dschinn«, antwortete er. »Und dein Verwandter. Ich würde dir meinen Namen nennen, wenn ich könnte.«
    Du bist mit uns verwandt? Wie ist das möglich?
    »Ich wurde vor tausend Jahren in dieser Gestalt eingefangen von einem Hexer namens Ibn Malik.« Er hob den Arm und zog die staubige Manschette von der eisernen Schelle – und sie wichen zurück; die ihm am nächsten waren, stoben auseinander.
    Das ist wider unsere Natur! Wie kannst du sie tragen, ohne Schmerzen zu haben?
    »Das ist Bestandteil der Bindung an ihn«, erklärte er. »Bitte, sagt mir – könnt ihr sie entfernen? Haben wir in tausend Jahren dieses Wissen erlangt?«
    Sie bildeten einen Kreis und diskutierten, ihre Stimmen ein Wüstensturm. Er schloss die Augen und saugte das Geräusch auf.
    Nein. Wir besitzen dieses Wissen nicht.
    Er nickte und hatte das Gefühl, als hätte er die Antwort schon gewusst.
    Aber sag uns – müssen wir diesen Hexer fürchten? Lebt er noch, um uns einzufangen und uns an sich zu binden?
    »In gewisser Weise lebt er noch, aber ihr braucht keine Angst vor ihm zu haben.« Er öffnete den Koffer und nahm die Flasche heraus; wieder wichen sie zurück, da sie das Eisen unter dem Kupfer spürten. »Hier drin ist seine Seele, eingefangen wie er mich einst eingefangen hat. Aber wir sind noch aneinander gebunden. Wenn das Siegel während meiner Lebenszeit aufgebrochen wird, wird er zurückkehren.«
    Und nach deinem Tod?
    »Dann kann man ihn freilassen, und seine Seele wird erleben, was immer sie erwartet.«
    Sie sprachen leise miteinander. Die Dschinniya sagte:
Wir würden dich gern töten, um den Hexer zu vernichten. Du bist nur mehr ein Schatten deiner selbst – wäre es nicht
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