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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Autoren: Helene Wecker
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Doch er ließ das Grabmal unversehrt und anonym. Er wusste, wer sie waren und warum sie hier lagen; das musste genügen.

    Die Sonne ging unter, als der Golem nach Hause kam, in ihre neue Pension in der Eldridge Street. Ihr Zimmer war nicht größer als das, das der Rabbi für sie gefunden hatte, doch das Haus war doppelt so groß und beherbergte eine wesentlich geselligere Gästeschar. Die Hausbesitzerin war eine ehemalige Schauspielerin, und die meisten ihrer Mieter stammten aus diesem Milieu: reisende Mimen, die für eine oder zwei Spielzeiten in New York haltmachten, bevor sie zu einem Gastspiel woanders aufbrachen. Sie mochte ihre Mitbewohner. Ihre Gedanken konnten anstrengend, sogar ermüdend sein; aber ihre Begeisterung war ungeheuchelt, und bald schlossen sie sie auch ins Herz. Sie war ein Pol der Ruhe unter ihnen und eine neugierige Zuhörerin, wenn sie Geschichten erzählten. Irgendwann sprach sich herum, dass sie geschickt mit der Nadel war, und bald baten sie alle, ihre Kostüme zu flicken oder sogar neue zu nähen:
Die Schneiderin der Truppe ist einfach furchtbar, sie kann es nicht mit dir aufnehmen.
Wenn sie Geld hatten, bezahlten sie sie für ihre Arbeit, wenn nicht, brachten sie ihr Blumen oder Petit Fours oder Eintrittskarten für die erste Reihe und lenkten sie mit fröhlichem Lärmen von ihren Sorgen ab. Und im Gegensatz zu ihrer alten Pension hatten sie nichts dagegen, wenn nachts das Licht brannte oder jemand die Treppe hinauf- oder hinunterging.
    Sie blieb betroffen vor ihrer Zimmertür stehen. An der Klinke hing ein Hochzeitskleid aus billigem Satin, ein Riss in der Schleppe. Dazu ein Zettel von einer Nachbarin, die ihr im voraus dankte und eine Tüte mit Schokoladenbonbons oder was immer sie wollte versprach.
    Sie trug das Kleid ins Zimmer, zündete die Lampe an und zog das Nähkörbchen näher zu ihrem Stuhl. Ihr eigenes Hochzeitskleid lag gefaltet in dem kleinen Schrank unter ihrer Alltagskleidung. Sie konnte sich noch nicht davon trennen.
    Die Schleppe war leicht zu flicken, und bald war sie fertig damit. Gedankenverloren strich sie die Ärmel und das Oberteil glatt, suchte nach kleinen Rissen, die sie flicken könnte, und dachte dabei die ganze Zeit an Annas Rat, dass sie, was Ahmad betraf,
etwas tun
sollte. Bei Anna hieße das wahrscheinlich eine stürmische Liebschaft voller Melodramatik und gebrochener Versprechen. Der Dschinn war vielleicht zu so etwas in der Lage – was immer zwischen ihm und Sophia Winston passiert war, schien in diese Richtung zu gehen –, aber sie? Es war lächerlich, sich selbst als trunken vor Leidenschaft vorzustellen, so absurd selbstvergessen, dass sie alle Vernunft über Bord werfen und nicht an die Folgen denken würde.
    Aber gab es eine Alternative? Eine stille Romanze, dann die Hochzeit und das Leben als Hausfrau? Das war fast genauso schwer vorstellbar. Er würde wahnsinnig werden unter der Last von Treue und Beständigkeit, wenn er Tag für Tag in eine winzige Wohnung zurückkehren müsste. Er würde ihr die Schuld geben, und sie würde ihn verlieren. Und selbst wenn er dank eines Wunders willens dazu wäre, wollte sie nach Michael überhaupt noch einmal heiraten? Vielleicht wäre es besser, ein paar Jahre lang hier in ihrem Zimmer zu nähen.
Wenn du kannst, solltest du versuchen, glücklich zu werden
, hatte Anna gesagt – aber der Golem wusste nicht wie.
    Jemand klopfte an die Tür: die Vermieterin, die ein Telegramm in der Hand hielt. »Chava? Das ist gerade für dich gekommen.« Sie reichte es ihr und schloss die Tür, obwohl sie ihre Neugier kaum im Zaum halten konnte.
    BEIRUT SYRIEN 29 .  SEPT .
    CHAVA LEVY
    67   ELDRIDGE STREET NY
     
    ALLES ERLEDIGT , BIN NOCH IMMER AN IHN GEBUNDEN  –
    Sie hörte auf zu lesen und schloss die Augen. Er hatte wenig Hoffnung gehabt, das wusste sie. Und zweifellos hätte sie ihn verloren, sobald die Wanderlust die Oberhand über seine Zuneigung für sie gewonnen hätte. Dennoch verspürte sie eine große Traurigkeit für ihn.
    Sie las noch einmal:
    ALLES ERLEDIGT , BIN NOCH IMMER AN IHN GEBUNDEN . SAG ARBEELY , DASS ICH MEINE STELLE WIEDER MÖCHTE  –
    Sie musste lächeln.
    – WERDE VIA MARSEILLE ZURÜCKKOMMEN . ERWARTE MICH 19 .  OKT . UNTER DEINEM FENSTER .
    AHMAD AL - HADID
    Vielleicht, so dachte sie, als sie ihren Umhang schloss, gab es etwas dazwischen, einen ruhigen Ort zwischen Leidenschaft und Zweckmäßigkeit. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn finden sollten. Aller Wahrscheinlichkeit nach
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